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Leichenberg 05 und 06/2018

 

Leiser Tod

Es ist ein faszinierendes Paradox, Kontingenz wie nach einem Masterplan gestrickt aussehen zu lassen. Garry Disher, der Uhrmacher unter den Kriminalschriftstellern dieser Welt, beherrscht dieses Paradox blendend, er zelebriert es sogar mit deutlicher Wollust. So auch in seinem neuen Roman: Leiser Tod (Unionsverlag). Detective Inspector Hal Challis von der Crime Investigation Unit von Mornington, New South Wales, hat eine Menge Ärger an der Backe. Seine Einheit ist notorisch unterbesetzt und schlecht ausgestattet, nicht alle seine Mitarbeiter sind Cracks auf ihrem Gebiet, und als Challis, dem wir hier zum sechsten Mal begegnen, in einem Zeitungsinterview auf diese Missstände hinweist, hat er richtig massiven politischen Ärger, die Bosse toben und drohen. Detective Sergeant Elly Destry, mit der endlich eine Beziehung eingegangen ist - Disher beherrscht auch das Soap-Prinzip perfekt - ist auf einer Fortbildungsreise, ihre maulige Tochter eine weitere Laus in Challis' Pelz. Und dann sind da noch die üblichen Verbrechen: Ein Vergewaltiger und Mörder treibt sich auf der "Peninsula", der Halbinsel am Zipfel Australiens, herum, ein Bankräuber mit Schrotflinte marodiert durch die Gegend und eine Top-Diebin namens Grace oder Susan oder Anita sticht in ein noch viel tödlicheres Wespennest, dessen Verwurzelung bis ins revolutionäre Russland und ins chinesische Harbin reichen. Disparater geht's nimmer, möchte man denken, aber dann setzt eben Dishers einzigartige Plotverknüpfungsstrategie ein - "Text Design" auf hohem Niveau. Am Ende sitzt jedes Partikelchen an seinem Platz, aber das heißt noch lange nicht, dass der Roman "mechanisch", also voraussehbar, abläuft. Ganz im Gegenteil, denn ein überraschender Twist jagt den anderen. Einfach so, aus dem Blauen, aber dennoch völlig plausibel. Besonders die Profi-Einbrecherin ist Disher anscheinend ans Herz gewachsen. Sie ist eine nahe Verwandte im Geiste seines anderen Serienhelden, dem Gangster Wyatt, und somit eine weibliche Fortschreibung aus dem Gangster-Universum von Donald Westlake, ähnlich wie Crissa Stone aus der Produktion von Wallace Stroby. Frauen erobern die Welt des professionellen Verbrechens, zumindest in der Literatur.
      Disher bietet jedoch mehr: Er verzahnt das Alltagsleben in Australien heute, das bei ihm nicht sehr gut wegkommt, über seine Figuren und ihre unterschiedlichen Mentalitäten so organisch mit den dazugehörigen Verbrechen, dass alles zusammen wie ein großes, träges, dahinfließendes Kontinuum erscheint, von dem nur eines gewiss erscheint: Es wird nicht besser. Am Ende verkauft Challis seine geliebte "Dragon Rapid", das Flugzeug, das ihm einst den Spitznamen "Drachenmann" gegeben hatte, und seinen Triumph. Jetzt fährt er einen BMW und ist zunächst einmal vom Dienst suspendiert. Was natürlich nicht bedeutet, dass wir uns Sorgen um ihn machen müssen. Oder doch?

Die Tankstelle von Courcelle

Irgendwo im deutsch-französischen Grenzgebiet liegt Die Tankstelle von Courcelle, wie der Titel von Matthias Wittekindts neuem Roman (Nautilus) verrät. An eben dieser Tankstelle gibt es 1987 eine nächtliche Schießerei mit zwei toten Menschen. Zeugin ist Lou, die Stieftochter des Pächters. Aber ist sie tatsächlich nur Zeugin oder ist sie in den Vorfall verwickelt? Der junge Polizist Ohayon - Wittekindts Serienheld, dessen Geschichte hier eine Art "Prequel" bekommt - hat so seine Zweifel. Lou, das eigenwillige Mädchen, deren Biographie der Roman bis in die Jetzt-Zeit folgt, gehört zu einer Clique junger Leute, deren psychische Dispositionen auf dem Weg des Erwachsenwerdens der Roman auf verschiedenen Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven zu erahnen sucht. Welche Wahrheiten gibt es, worin gründen sie, gibt es überhaupt "die Wahrheit"? Zumal die Welt auch in Wittekindts Provinz alles andere als heil ist und weil alle Protagonisten, wie sich nach und nach herausstellt, ihre jeweils ganz eigenen persönlichen Dilemmata haben und auch weil die Zeitgeschichte kräftig mitmischt: Menschenschmuggel an der französisch-belgischen Grenze, das allmähliche Einsickern rechtsradikalen Gedankenguts in manche jugendliche Köpfe, Alltagskriminalität. All das, zusammen mit den Selbstfindungsproblemen der Jugendlichen ergibt, angesichts der schlanken 252 Seiten, eine dichte, sehr komplexe Gemengelage, die Matthias Wittekindt bewundernswert ökonomisch erzählt.
      Seine ruhige, fast stille, völlig uneitle und souveräne Prosa, die es nicht nötig hat, ihre eigene Brillanz zu feiern, macht die hohe Qualität des Romans aus. Der Kriminalfall selbst, also die Schießerei, die übrigens nicht die einzigen Leichen des Buchs produziert, wirkt fast unauffällig platziert, ist aber dennoch das entscheidende Ereignis des Buches, von dem aus sich Vergangenheit (der Roman beginnt im Jahr 1978) und Zukunft der handelnden Personen entfaltet. Gewalt und Verbrechen werden so zu einer Art Dreh- und Angelpunkt, von dem aus sich die Welt beschreiben und, vielleicht, auch erklären lässt. Am Ende wissen wir immer noch nicht, was genau an der Tankstelle passiert ist, aber wir wissen, wie wirkmächtig solche Vorfälle für die Biographie aller Beteiligten (und mancher Unbeteiligten) sind: Exakt diese Überschneidung von privatem und öffentlichem Raum ist das Kerngeschäft guter Kriminalliteratur, auch wenn sie nicht auf sensationelle Effekte setzt. Deswegen ist »Die Tankstelle von Courcelle« ein großartiger Kriminalroman.

Red Grass River

Für seine Verhältnisse eher blutarm, aber mit großem epischen Atem geht James Carlos Blake in Red Grass River (Liebeskind) zu Werke - der Roman stammt schon aus dem Jahr 1998, hat manche Parallelen zu James Lee Burke (minus dessen transzendente Anteile) und kann zudem gut zeigen, wieviel zum Beispiel Dennis Lehane von Blake gelernt hat. Blake überblendet Gangster- und Familienroman (vor allem Väter & Söhne, das amerikanische Narrativ par excellence und spätestens seit Turgenjew ein Hinweis dafür, wie manche Erzählweisen klammheimlich im 19. Jahrhundert wurzeln) in einer Geschichte, die in den Everglades von Florida spielt. Zwei Clans, die Ashleys, Outlaws im romantischsten Sinne, und die Bakers, Ordnungshüter im weitesten Sinne, bekriegen sich in Gestalt ihrer Söhne John und Bobby bis zum blutigen Finale. Gleichzeitig - wir bewegen uns in den Jahren von ca. 1911 bis 1924 - verändert sich die Landschaft. Die wuchernden Everglades werden teilweise "kultiviert", die anarchische Lebensform der Outlaws wird anachronistisch, das Organisierte Verbrechen aus Chicago und Neuengland braucht Florida als Basis für den Alkoholschmuggel, die Ordnungsmacht erledigt nolens volens deren Geschäft. Blake, der unerbittliche Chronist amerikanischer (und damit westlicher) Neuralgien und Neurosen, spürt auch hier wieder den entscheidenden Faktoren Gewalt und Verbrechen nach und deren ökonomischen Bedingungen nach, die zivilisationsprägend und deswegen aktueller denn je sind.

Nordwasser

Historisierend auch Nordwasser (Mare) von Ian McGuire. Der Roman spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf einem Walfänger im Eismeer hat ein mörderischer Psychopath einen Schiffsjungen massakriert und eine Zeugen verschwinden lassen. Aber das ist nicht das einzige finstere Geheimnis der "Volunteer", denn der Walfang steckt in einer ökonomischen Krise, die der Reeder mit einem Versicherungsbetrug abfedern möchte: Ein typisches Schiff der Verdammten. Im ewigen Eis und in schlimmer Kälte nehmen die Dinge ihren atavistischen Lauf, beim Überlebenskampf fallen alle menschlichen Standards weg. Der Schiffsarzt, auch selbst kein moralisch reinlicher Mensch, und der Mörder werden zu Todfeinden, weit über die eisigen Gewässer hinaus. »Nordwasser« orientiert sich schon fast zwangsläufig an Herman Melville - auch er einer der Garanten, dass Schreibweisen des 19. Jahrhunderts heute noch paradigmatisch sein können und sind -, und schießt noch einen kräftigen Anteil "Taboo" zu, akzentuiert aber die schauderhaften Umstände noch schärfer, die auf einem solchen Schiff dieser Zeit herrschen und wird erst richtig gnadenlos, wenn das Überleben nach dem Schiffbruch beginnt, in bedrohlicher Finsternis, gewaltgetränkt, im Handgemenge mit einer brutalen Natur. Ein grimmiges, böses, großartiges Epos, das auch durch die verheerenden Dynamiken des viktorianischen Frühkapitalismus angetrieben wird. Der historische Roman als Parabel auf das Hier & Jetzt, eine seit jeher wirkungsvolle Formel, nicht sehr originell, aber, wenn, wie hier, gut gemacht, ein Vergnügen.

Äquator

Nur ein paar Jahre später, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg bis ca. 1878, spielt Antonin Varennes Äquator (C. Bertelsmann). Der Franzose Varenne ist ja sowieso wegen seines virtuosen Switchens zwischen den Genres einer der interessantesten Autoren der Gegenwart - abseits aller Genrelimits. So auch hier: Die Geschichte vom Bürgerkriegsdeserteur Pete Ferguson, der auch noch wegen Mordes gesucht wird, und der unbedingt und obsessiv den Äquator erleben möchte, weil er davon überzeugt ist, jenseits des Äquators sei alles anders, speist sich aus Western, Abenteuerroman und Polit-Thriller gleichermaßen. Fergusons Selbstfindungstrip, bei dem er eine Blutspur hinterlässt (wenn auch aus benevolenten Gründen) führt von Bisson-Massakern in der Great Plains nach Mexiko, von dort nach Guatemala, wo er in eine Revolution gerät, dann nach Französisch-Guayana (Stichwort: Teufelsinsel, Dreyfus, "Papillon" und so), an den brasilianischen Amazonas und schließlich zurück in die USA. Den Äquator trägt er inzwischen auf dem Leib tätowiert, so wie er seinen ganzen Körper mit seinem Leben in Tattoos überschreibt - symbolische Handlungen mit einer gescheiterten Illusion fertig zu werden: denn jenseits des Äquators ist nichts anders. Varennes Prosa ist transparent und sperrig gleichzeitig, was auch an seiner Weigerung liegt, Klischees, vor allem Plot-Klischees und Figurenklischees zu bedienen. Alleine die Schilderung von Maria, einer Xinca aus Guatemala, die zu Fergusons Glück wird, ist ein Meisterstück inmitten eines meisterhaften Wurfs. Und wer Varenne kennt, darf sich auf ein Wiedersehen mit dem furchteinflößenden Arthur Bowman freuen, dem Helden aus Die sieben Leben des Arthur Bowman.

Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Historische Stoffe müssen aber nicht notwendigerweise mit dem epischen Vorschlaghammer agieren, auch wenn man oft den Eindruck hat, Seriosität wolle sich unbedingt über wuchtige Großformen herstellen, auch das ein Erbe des 19. Jahrhunderts, by the way. Es geht auch anders: Jakob Hein etwa geht mit federleichter Eleganz sein historisches Thema an, das zudem auf einem realen Ereignis basiert:Die Orient-Mission des Leutnant Stern (Galiani). Tatsächlich gab es einige Versuche der Deutschen im 1. Weltkrieg, die Briten und Franzosen in den islamischen Ländern ihrer Kolonialreiche vermittels eines Dschihad zu destabilisieren (und damit sozusagen durch die Hintertür das britische Kolonialreich via Indien anzugreifen, aber dieser Aspekt taucht hier nicht auf). Zu diesem Zweck soll der jüdische Leutnant Stern an der Westfront gefangene marokkanische Soldaten nach Konstantinopel transportieren, um dort mit ihnen Kriegspropaganda zugunsten einer pan-islamischen Bewegung zu machen. Weil er aber auf seinem abenteuerlichen Weg auch über prekäres Territorium ziehen muss (schauen Sie mal auf die Landkarte) verkleidet er den ganzen Transport als Zirkustruppe, nur um in Konstantinopel in die gerade ausbrechenden Massaker der Türken an den Armeniern zu geraten. Das ist von böser, paradoxer und ziemlich komischer Ironie, schon fast eine weltgeschichtliche Parabel, die den Wahnsinn von angeblicher "Realpolitik" immer noch im Kern trifft.

Verrat

Tief in der irischen Geschichte wurzelt Nicholas Searles Roman Verrat (Kindler). Das Buch begleitet zwischen den Jahren 1989 bis 2005 ein irisches Ehepaar. Er, Francis ist Aktivist der IRA, ein effektiver Killer. Sie, Bridget, ist Hausfrau. Obwohl die Liebe schal geworden ist, ist sie immer loyal zu ihm. Nur um Schlimmes und Schlimmeres zu verhindern, lässt sie sich vom britischen Geheimdienst anwerben. Die "irische Sache" interessiert sie nicht, aber ihre Ehe versteht sie als unverbrüchlich. Die politische Lage aber ändert sich durch die Jahre, die Führung der IRA hat plötzlich andere Prioritäten, ihre Führungsriege will politisch "legal" mitspielen. Daraus entstehen neue Loyalitätskonflikte, neue Varianten von Verrat. Und Bridget steht immer noch zu ihrem Mann, obwohl der sich in Verbitterung und Hass flüchtet, bis … Das Ganze hat unbestreitbar eine "innere Spannung", die sich aus der Psychologie der weiblichen Hauptfigur herleitet. Das ist an dieser Stelle sehr gelungen, zeigt aber gleichzeitig die Dominante des Romans an: Er ist eine Meditation über Loyalität und Verrat, also weniger ein Buch über Irland, denn eines über die conditio humana. Geschichte wird so zum mehr oder weniger austauschbaren Unter- oder Hintergrund für die als immer wieder gleich dargestellten Menschheitsfragen.

Dunkelkinder

Eine interessante Autorin ist Nora Luttmer. Ihr großes Thema ist Vietnam, wo ein paar ihrer früheren Romane spielen und zu dem sie sehr kluge Dinge zu sagen hat. In ihrem neuen Buch Dunkelkinder (Knaur) nimmt sie das Vietnam-Thema mit nach Hamburg und erzählt die rührende Geschichte eines kleinen vietnamesischen Jungen, Sam, der Menschenhändlern in die Hände gefallen ist und als "Geist" in einer Drogenplantage Sklavenarbeit verrichten muss - unter elenden Verhältnisse, ständig bedroht, psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Aber wundersamerweise gelingt es ihm, einen beinahe gleichaltrigen deutschen Freund, Luka, zu finden. Diese Sam- und Luka-Passagen sind großartig, sehr feinfühlig, sehr empathisch und plausibel motiviert. Mit "Tante Lien", ein anscheinend nette, ältere, biedere Dame, die in ihrer mörderischen Konsequenz (sie ist die Aufpasserin für Sam im Dienste einer vietnamesischen Mafia) schon fast monströs erscheint, ist Luttmer eine weiter spannende Figur gelungen, die die ganze Perfidie und fast omnipotente Systematik von "Mafia" in allen Lebensbereichen blendend illustriert. Der Pferdefuß jedoch liegt, wie so oft, in der "Formatierung". In diesem Fall heißt das Format "Tatort-kompatibler-Krimi". Deswegen muss eine Kommissarin (leicht problematisch, aber kompetent) ermitteln, die wiederum unter ihrem Chef und Ex-Lover (Schurke, korrupter) leidet und mit dem Gerichtsmediziner ein Match hat und auch sonst alle möglichen Topoi des Formats durchdekliniert - so, als ob niemand der Kerngeschichte traut, die erst als verkäuflich verstanden wird, wenn sie dem üblichen "Krimi-packt-heiße-Eisen-an, aber nicht wirklich irritierend"-Schema untergeordnet wird. Dazu die übliche Sprachglättung - ganze Sätze nach Duden, redundant und immer erklärend, damit die Leserschaft auch brav mitkommt, gespickt mit den auch üblichen Gräueln: "Ein Zittern durchlief ihren Körper" (oder so). Das ist schade - ich bin überzeugt, dass Nora Luttmer viel mehr kann.

 

© Thomas Wörtche, 2018

 

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