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Leichenberg 07/2018

 

Kesseltreiben

Kesseltreiben (Ariadne) heißt der neue Roman von Dominique Manotti. Wie fast alle ihre letzten Bücher balanciert er zwischen Fiction und Non-Fiction, wobei die Romanform eine Konsistenz der Realität suggeriert, die man, je nachdem, aufklärerisch oder verschwörungstheoretisch nennen könnte.
      "Orstam" ist ein französischer Konzern, der Kraftwerksanlagen und Turbinen baut und weltweit agiert. Er gehört zur nationalen Schlüsselindustrie. Allerdings hat ein amerikanischer Konzern ein Auge auf Orstam geworfen und strebt eine Übernahme an. Weil man nicht davon ausgeht, dass die Franzosen dem ergeben zustimmen, werden Top-Manager des Konzerns unter Druck gesetzt. Gegen die konzertierte Aktion von US-Justiz, FBI und CIA bei gleichzeitiger Indolenz, Korruption und Beißhemmung (aus Gründen der Bündnis-Politik) der französischen Regierung kann das Kesseltreiben gegen Orstam nicht gut ausgehen. Zumal der Konzern keinesfalls saubere Pfötchen hat und schon längst von Menschen auf der amerikanischen Gehaltsliste unterwandert ist. Dieses gigantische Komplott, bei dem es um 12 Milliarden Dollar geht, wird erst allmählich sichtbar, weil sich Commandant Nora Ghozali, die wir, wie auch andere Figuren der Pariser Polizei, schon aus früheren Romanen von Manotti kennen, und ihre Leute eher zufällig einschalten. Minutiös schildert der Roman, wie Schicht für Schicht des Gespinsts in mühsamer Kleinarbeit über allerlei Umwege und Abschweifungen freigelegt werden. Manottis stilistischer Minimalismus erzeugt dabei den Eindruck eisiger Zwangsläufigkeit. Eine Art böser Determinismus setzt sich in Gang, der sich manchmal wie eine Art Sachbuch mit Erzählhandlung liest. Zumal, für aufmerksame Leser des Wirtschaftsteils, bald klar wird, dass die Affäre Orstam der sogenannten "Alstom Affäre" von 2013 bis 2015 nachgebaut ist, als General Electric (bei Manotti heißen die Bösen "PE") Siemens bei der Übernahme der "Alstom Énergie" wundersamerweise augebootet hatte. Neben diesem Kernplot integriert Manotti noch den Schulterschluss der großen Banken mit der Mafia (verschiedener Nationalität), wenn es um Geldwäsche und verdeckte Zahlungen geht. Die Sex-Spiele der Reichen und Mächtigen und die "Honigfallen" der Geheimdienste, um wichtige Menschen zu diskreditieren, geben in "Kesseltreiben" den human factor her und stehen für die grundsätzliche Verderbtheit der "Eliten", die den Interessen des entfesselten Kapitalismus in die Hände spielt - das ist sehr analog zu dem puritanischen Aspekt der Französischen Revolution, der die "Sittenverderbnis" des Ancien Regime geißelte, und damit Momente sexueller Befreiung und Autonomie moralisch a priori diskreditierte. Man könnte diese Linie über die Russische Revolution bis zu heutigen lustfeindlichen Konzepten allerlei populistischer Strömungen weiterziehen, bemerkenswert ist dabei lediglich, dass auch Manotti diesen problematischen und uralten Topos von "Elitenkritik" fröhlich bedient.
      Dagegen stehen die aufrechten Polizistinnen und Polizisten, denen Manotti erstaunlich wohlgesonnen ist, die aber gegen die systemischen Kräfte als chancenlos gezeigt werden. Genauso chancenlos wie die Politik gegenüber dem Kapital ist. Das Kapital hat die Politik längst in der Tasche, zumindest die französische. Denn die amerikanische Politik handelt deckungsgleich mit der amerikanischen Wirtschaft - und nicht erst seit "America First", sondern genauso auch unter Obama. Insofern ist "Kesseltreiben" weniger ein Buch wider französische Verhältnisse, sondern eine Anklage gegen die amerikanische Außen- und Wirtschaftspolitik. Oder, wenn man so will, ein Appell an Europa, Widerstand zu leisten. Aber eine solche Vermutung liegt auf der interpretativen Ebene. Vielleicht würde sich Manotti sogar nicht dagegen wehren, den Begriff "Agitprop" neu entdeckt und besetzt zu haben. Aber auf jeden Fall geht sie davon aus, dass es hinter der "offiziellen" Wirklichkeit, eine zweite, wirklichere Wirklichkeit gibt, die, wenn schon die erste es nicht ist, die konsistentere und wahrere ist. Und das wäre dann tatsächlich verschwörungstheoretisch grundiert.

Blauer Elefant

Ins Handgemenge mit der Realität geraten auch die Figuren des ägyptischen Autors Ahmed Mourad. Er versucht, in seinem Thriller Blauer Elefant (Lenos) forensische Psychiatrie, Mordermittlungen und diverse Drogen-Trips in ein Kuckucksnest, nee, unter einen erzählerischen Hut zu bringen. Zudem inszeniert er seine Hauptfigur, den verlotterten Psychiater Jachja, als hartgesottenen Außenseiter, dem alles egal zu sein scheint und der nur seinen wegen Mordes angeklagten Freund Scharîf exkulpieren will. Eine Droge namens "Blauer Elefant" verwirbelt aber auch ihm die Realitätsebenen, er selbst gerät in Mordverdacht, als seine Geliebte plötzlich tot ist. Aber die länglichen, oft zähen Drogen-Passagen erinnern fatal an Burroughs und die Folgen und wirken wie eine nicht recht gelungene (oder oft schon besser ausgeführte) Hommage an die guten, alten LSD-Zeiten und das ist ziemlich langweilig und gähn. Vor allem aber verwischen sie immer wieder selbstzweckhaft den Hauptplot. Die interessanteren Passagen, die viel über die ägyptische Gesellschaft vor 2012 aussagen, über deren Neurosen, den Umgang zwischen den Geschlechtern, über die Dialektik starrer Strukturen und Aufbruchsstimmung können leider die dramaturgischen Schwächen nicht wettmachen. Mourad will zu viel, die stilistischen Werkzeuge fehlen ihm aber allzu deutlich.

Mädchen N° 5

Eine Menge Ideen bietet Howard Linskeys Mädchen N° 5 (Knaur). Was wie eine der üblichen Serialkiller-Geschichten anfängt, nimmt bald ein paar überraschende Wendungen. Die Handlung spielt 1993 im Nordosten Englands, um County Durham herum, in Linskeys natürlichem Biotop. Ein abgehalfterter Detective Constable, ein rausgeworfener Skandaljournalist und eine engagierte Lokalreporterin wähnen sich auf der Spur eines Mädchen-Mörders, stoßen aber auf einen alten Mord aus dem Jahr 1936 und puzzeln eher versehentlich all diese kontingenten Ereignisse zusammen. Das ist sehr ironisch, gespickt mit Linskeys berühmt bissigen Ausfällen gegen den Unfug der Zeitläufte, wobei er sich hier besonders den Tabloid-Journalismus der 1990er Jahre vorknöpft, aber unüberlesbar die Fake-News-Debatten von heute meint. Auch die üblen Intrigen innerhalb der Polizei, die Inkompetenz und das Hierarchie-Gerangel fühlen sich so gar nicht historisch an. Genauso wenig die Geschichte des Malers, der 1936 plötzlich spurlos verschwunden ist. Der war nämlich Ire und insofern schon der katholische Außenseiter in einer streng anglikanischen und vor allem puritanisch-heuchlerischen Gesellschaft. Das, naja, Happy End, das Linskey konstruiert, ist so artifiziell und lauthals der "poetischen Gerechtigkeit" verpflichtet, dass es deutlich die historische Differenz zwischen 1993 und 2014 markiert. Damals durfte man auf derlei vielleicht noch hoffen, aber heute...?

Blut Salz Wasser

Ein bisschen weiter nördlich, von Glasgow aus operierend, obwaltet Denise Minas Alex Morrow, die Serienermittlerin mit der unglücklichen deutschen Publikationsgeschichte, die jetzt bei Ariadne gelandet ist. Die Originalität von Blut Salz Wasser beruht nicht auf dem Konzept, eine schottische Kleinstadt mit dem Seziermesser auseinander zu nehmen - der Topos von der Brüchigkeit der anscheinend idyllischen Provinz ist seit Urzeiten kriminalliterarischer Standard. Auch das Unabhängigkeitsvotum der Schotten und die daraus resultierende Spaltung der Bevölkerung als Strukturierungselement das Romans zu nutzen, ist eher naheliegend, wenn auch sehr praktikabel und gelungen. Aber Minas wirkliche Qualität liegt in ihrer Widerborstigkeit gegenüber erzählerischen und inhaltlichen Konventionen. Ein Mörder, nach dem alle außer dem Lesepublikum, suchen, irrt, von allen möglichen Drogen immer verwirrter und wahnsinniger durch die Gegend, von seinem schlechten Gewissen gequält und gepeinigt, Frauen über 50 haben ein Sexlife und Alex Morrow widersetzt sich allen Optionen, sie als "liebenswürdig" oder "nett" zu bezeichnen. Zeitgeistige Trends sind für Mina (Bio-Läden etc.) höchstens Anlass zu Spott und Hohn, und am trefflichsten ist ihr Blick auf die bizarre Komik der Welt, wenn es darum geht, welche Polizei (die Scotland Police oder die Metropolitan Police London) die fette Beute einstreicht, die sie machen würden, wenn es ihnen gelänge, an die Millionen aus (internationalen) Geldwäschegeschäften heranzukommen, um die es in dem Roman geht. Aufklärung nicht um Recht & Ordnung willen, sondern wegen Kohle. Besser und entlarvender kann man die betriebswirtschaftlich durchformatierte Gesellschaft nicht auf den Punkt bringen. Genial.

Der Wille zum Bösen

Noch radikaler greift Dan Chaon in Der Wille zum Bösen (Heyne) die Erzählkonvention "Kriminalroman" an. Denn diese Konvention muss ja darauf bestehen, dass nur Dinge "aufgeklärt" werden können, die in einer als konsistent begriffenen Wirklichkeit passieren. Entfällt aber eine solche Konsistenz, dann wird "Aufklärung" zu einem grotesken, sinnfreien Unternehmen. Bei Dan Chaon geht es um die Aufklärung einer Mordserie (wirklich Mord oder einfach Unfälle) an jungen Männern, die stockbesoffen oder sonst wie out of order in irgendwelche Gewässer gefallen sind und ertrunken aufgefunden werden. Zumindest ist das die These des Ex-Cops (wirklich?) Aqil Ozorowsi (was für borgesker Name!), der den Psychologen Dustin Tillman in seine Wahnwelt hineinmanipuliert. Tillman nun, die eigentliche Hauptfigur, hat grundsätzlich Probleme mit der Wirklichkeit, weil er seit Kindesbeinen seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut und er dazu neigt, entschlossen vorgebrachte Narrative anderer Menschen als eigene zu übernehmen (oder seine Phantasien ex post zur Wirklichkeit zu erklären, in aller Unschuld). Seine Frau, die ihn immerhin ein bisschen an der Stelle strukturieren konnte, ist gerade gestorben, dass sein Sohn Aaron ein Junkie ist, merkt er gar nicht. Und zudem hatte seine Wirklichkeitsblockade vor langen Jahren seinen Pflegebruder Rusty wegen mehrfachen Mordes in den Knast gebracht, weil Tillman aus der Luft gegriffene Beschuldigungen als Zeuge gegen Rusty vorgebracht hatte. Aber Rusty, so stellte sich inzwischen nach DNA-Analysen heraus, konnte nicht der Mörder sein (wirklich?) - und jetzt ist er wieder auf freiem Fuß, obwohl immer noch nicht klar ist, was damals passiert war. Die Wirklichkeit ist ein fraktalisiertes Ding, das sich einfach nicht zu der Konsistenz fügen will, die "Aufklärung" als sinnvolles Unternehmen erschienen ließe. Insofern ist "Der Wille zum Bösen" eine Art Analog-Stück zu Franz Kafkas "Prozess", dem juristischen Prozedere ohne jede Art von Tat und insofern schon damals eine bös inverte Blaupause für Kriminalromane mit Aufklärungsoptimismus. Chaon inszeniert Tillman zwar als "unreliable narrator", aber er tut dies weit raffinierter als man es schon gelesen hat. Er springt durch Raum und Zeit, ordnet typographisch unkonventionell an, um etwa Simultanität oder Multiperspektivik anzudeuten, Behauptung und Dementi auf einen Blick. Oder er unterbricht die Syntax des Erzählten, lässt Sätze im Nichts enden, setzt neu an oder kommentiert mit hilflosen Anakoluthen. Das - und die Tatsache, dass das Buch manchmal allzu dick schopenhauert und nietzsche-isiert - ist hin und wieder ein wenig anstrengend und dem Willen zu "großer Literatur" geschuldet, funktioniert aber dennoch prächtig, nicht zuletzt wegen der genauen und brillanten Prosa, mit der Chaon in die Köpfe der verschiedenen Figuren springt oder sie unter das Mikroskop legt, ohne je "Eindeutigkeit" zu produzieren. Dabei erreicht er by doing, also im Prozess des Schreibens ein Reflexionsniveau, das beeindruckend großartig ist.

Im Visier

So eine heftige Lektüre schreit nach Entspannung, die deswegen keinesfalls blöde sein muss - und voilà, was wäre geeigneter als ein gutlauniger Jack Reacher im neuen Roman von Lee Child: Im Visier (Blanvalet). Reacher prügelt und tötet deutlich freudvoller als in seinen letzten Auftritten in den amerikanischen Ödlanden. Diesmal darf er sich in Paris und London austoben, wohin er von einer geheimen Abteilung der Special Forces im Auftrag des Außenministeriums (et al.) geschickt wird, um einen Attentäter zu schnappen, den er vor Jahrzehnten schonmal verhaftet hatte. Der ist Tscheche und heißt John Kott - und kein Pole namens Jan Kott, allerdings weiß man bei Child nie, ob er sich nicht doch diesen kleinen Scherz mit dem großen Shakespeare-Exegeten erlaubt hat. Klar steckt dahinter wieder eine ganz andere, fiese und miese Nummer, die auf Jack Reacher persönlich abzielt. Das mag er bekanntlich gar nicht, also fliegen die Fetzen. Seiner Malewitsch-Ästhetik bleibt Child allerdings treu. Nur dass es hier nicht um Flächen und Räume geht, wie in den letzten Romanen, sondern um die Schönheit von Linien und Perspektiven. Bei Child sind das ballistische Linien, strukturiert durch Zeit und Geschwindigkeit, bedingt durch urbane Architektur. Kleine, wohltuende Eissplitter in der Sommerhitze, ohne Gefühligkeits-Fidelwipp.

Lovecraft

"Das namenlose Grauen", das im Zentrum der Werke von H.P. Lovecraft stand - und das trotz seiner unfreiwilligen Komik in seiner manischen Exaltiertheit dennoch ein Faszinosum ist - inspirierte den uruguayischen Comic-Künstler Alberto Breccia (1919-1993) zu einer zweijährigen (1974/75), intensiven Beschäftigung mit dessen Texten. Lovecraft (avant-verlag) versammelt diese Arbeiten Breccias, basierend auf eigenen Szenarien und solchen von Norberto Buscaglia. Wie, so Breccias Ansatz, kann man wohl Bildlösungen finden für die Lovecraft immer wieder lediglich behaupteten, aber nie explizierten Prädikationen wie "namenlos", "wahnsinnig", "unerhört", "abscheulich", "zutiefst verderbt", "grauenerweckend", "gottlos", "verflucht" ad infinitum? Also alles, was auf das Numinose, das Amorphe, auf die verdrängten Ängste und Obsessionen, auf das Gefühl der Bedrohtheit und des nackten Terrors abzielt, das die Lovecraft-Gemeinde so tief verunsichert und verstört (oder in schiere Angstlust versetzt), ohne es bis Albernheit zu konkretisieren (Schleimmonster oder anderes parallelweltliches Viehzeug sind schlichtweg immer albern). Und so entwirft Breccia mit damals noch unkonventionellen Techniken (Tusche, Monotypie, Collage, Wisch- und Reißtechniken etc.) ein in der Tat amorphes Universum der Düsternis und beklemmender Atmosphäre, die, ohne sich allzu lange mit der Semantik Lovecraft'scher Texte aufzuhalten, eine sehr autoritative Autonomie aufbauen, indem sie Interpretations- und Projektionsspielräume ganz weit öffnen. Dass das "Grauen" ein Jahr später, 1976, in Argentinien eine sehr andere, sehr konkrete Form annahm, könnte man in den Lovecraft-Arbeiten symbolisch präfiguriert sehen. Muss man aber nicht. Die Genialität von Breccias Bilder spricht für sich selbst.

The President is missing

Und weil ich's nunmal gelesen habe, nur so, aus Daffke: Bill Clinton / James Patterson The President is missing (Droemer) ist sicher das lustischste Buch der Saison. Der Präsident ist natürlich nicht Mr Trump (immerhin), sondern eine Art Harrison Ford aus "Air Force One", nur fast noch doller und noch besser und noch netter. Weil ein böser, böser, sowas von böser Feind mit einem superbösen Virus versucht, alle Computer, alle Elektronik überhaupt ratzfatz alles, was die USA so groß und mächtig macht, mit einem Happs lahmzulegen, muss sich Mr President höchstselbst auf die Söckchen machen und das Ding genau in time entschärfen, nebenbei noch seine innenpolitischen Gegner fertig machen und eine böse serbische Killerin (merke: Die Bösen, heutzutage, alles Serben) ausschalten und mit den Russen (auch böse) dealen. Ob das wohl, nägelkau, gelingt? Und ob er wohl, hyperventilier, in allerallerletzte Sekunde das Passwort rauskriegt, mit dem man das Virus töten kann - kleiner Tipp unter uns: Es hat unfassliche sechs (!!!) Buchstaben? Ach neee, ich merke gerade, wenn ich's hinschreiben will, das ist noch nicht mal wirklich lustisch, sondern peinlich, pathetisch und schlichtweg bescheuert.

 

© Thomas Wörtche, 2018

 

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