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Leichenberg 11/2013

 

61 Stunden

Zeit und Raum und Jack Reacher - das sind die eher minimalistischen Elemente von Lee Childs Romanen. An 61 Stunden (Blanvalet) kann man das schon fast abstrakt sehen. Jack Reacher landet in Bolton, einem gottverlassenen, von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschnittenen Kaff in South Dakota, das Profiteur der in den USA boomenden Gefängnisindustrie ist. Es ist Winter, minus 35° und kälter. Die erzählte Zeit beträgt 61 Stunden, plus eine kleine Coda. In diesen 61 Stunden scheitert Reacher, ist dem Selbstmord nahe und verliebt sich übers Telefon in seine Nachfolgerin als Kommandeur der berühmten 110th Special Unit der Militärpolizei der Army, und verschwindet spurlos vom Antlitz der Erde. Wer sein Gegenspieler vor Ort ist, ist lange unklar - der Feind von außen ist ein extrem bösartiger, kleinwüchsiger Narco-Boss aus Mexiko, der auf den schönen Namen Plato hört und in Bolton aus verständlichen Gründen Leute liquidieren lassen möchte. Das mag Reacher nicht. Und so beginnt eine Art vieldimensionales Schach auf begrenztem Raum und in begrenzter Zeit. 61 Stunden hat, wie alle Romane von Lee Child, Subtexte in Hülle und Fülle, die Figur Reacher ist keineswegs statisch, sondern wird immer weiter grüblerisch, einsam, schon fast verzweifelt. Es geht um engagierten Bürgersinn, um das Primat der Ökonomie über jegliche Vernunft. Und es geht um leere, weiße Räume und - wie immer - in Jack-Reacher-Büchern, um moralische Konflikte, die aus kontingenten Konstellationen entstehen. Und es gibt sparsame, aber effektive Action. Reacher ist und bleibt das narrative Ockham'sche Rasiermesser für aufgeklärte Leser.

Intrige

"J'accuse" - dieser berühmte Text des französischen Romanciers Émile Zola ist ein wichtiges Element des sogenannten "Strukturwandels der Öffentlichkeit" (im Sinn von Jürgen Habermas). Zola und ein paar Unterstützer klagten am Ende des 19. Jahrhunderts die Verurteilung des jüdischen Offiziers im Generalstab Alfred Dreyfus wegen Landesverrat an, die auf manipulierten Beweisen und intransparenter Verfahrensführung basierte. Dreyfus wurde Opfer machtpolitischer Interessen eines ultrakatholisch-militärischen Komplexes, der nach der Demütigung Frankreichs im Krieg von 1870/71 eine nationalchauvinistische Gesellschaft etablieren wollte. Das Eingreifen von Zola und seinen "Dreyfusiarden" zwang "das System" zum Einlenken, ein paar Intellektuelle hatten realpolitischen Erfolg. Robert Harris greift mit seinem neuen Roman Intrige (Heyne) den Stoff auf und modelliert ihn um - nicht Zola ist der Held, sondern ein Whistleblower im französischen Militärapparat, der die gefälschten Beweise (wie Bushs berühmte Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein) und die undurchsichtigen Verfahren (wie Obamas Tötungsentscheidungen) öffentlich macht wie Edward Snowden (oder Julian Assange). Geschichte auf aktuell gebürstet. Mit dem kleinen Unterschied, dass Harris' Held, der Oberstleutnant Picquart, am Ende belohnt und Kriegsminister wird. Bisschen schulfunkig, die ganze Angelegenheit und viel zu dicke aufgetragen.

Abbey Road Murder Song

Bisschen dicke auch das Zeitkolorit bei Abbey Road Murder Song von William Shaw (Suhrkamp). Ein historischer Roman aus dem swingin' London von 1968, (das Album kam erst 1969) herauskam, mit viel Beatlemania, einer Menge schicker Klamotten und einer Menge Quellen-Studium des Autors. Eigentlich ein grundsolider, englischer Polizeiroman, der am Ende an akuter Plotverschlingung leidet, die meistens dann auftritt, wenn ein whodunnit plötzlich ganz arg komplex und ganz arg vielschichtig werden soll und anfängt, Informationen und Kontexte wie wild nachzuschieben. Milde gesagt: Ein noch nicht ganz ausgereifter Erstling. Aber mit einer herzzerreißend spröden und charmanten Liebesgeschichte zwischen einem liebenswerten Tölpel-Copper und einer Polizistin, die sich in der noch stockkonservativen Gesellschaft jener Jahre irgendwie behaupten muss. Die beiden sind als Serienfiguren angelegt, wir werden sehen, ob die forciert dargestellten historischen Dimensionen auch selbstverständlicher integrierbar sein werden.

Omertà

Ein Fleißkärtchen für den englischen Historiker John Dickie, der mit Omertà gleich Die ganze Geschichte der Mafia - Camorra, Cosa Nostra, 'Ndrangetha (S. Fischer) in Angriff nimmt. Auf 892 (!) Seiten begleitet er die drei wichtigen Strukturen des Organisierten Verbrechens in Italien vom 18./19. Jahrhundert bis heute und türmt Material und Anekdoten und gelehrte Fußnoten zum Steinbruch für den emsigen Leser. Wem es tatsächlich um Strukturen geht, wird enttäuscht, weil Dickies Ansatz immer im Lokalhistorischen steckenbleibt und terminologisch irgendwann anfängt, den Begriff "Mafia" sowohl für ein sizilianisches Organisationsmodell und als auch für ein systemisches Verhalten zu verwenden. Das wird dann ein wenig wirr. Und letztendlich museal, weil der wichtigste Aspekt der Organisierten Kriminalität ihre globalen Strukturen quer durch sämtliche Gesellschaften, Nationen und Branchen ist - und das kommt bei Dickie nicht vor. Für Materialsammler sicher ein El Dorado.

Endlich mal wieder ein Geniestreich des Exil-Argentinischen Duos José Muñoz (Bilder) und Carlos Sampayo (Text), die sich diesmal Carlos Gardel. Die Stimme Argentiniens (Reprodukt) vornehmen und den geheimnisvollen ersten Weltstar des Tangos mit noch mehr Rätseln und Geheimnissen umgeben. Unter anderem setzen sie ihn dem Verdacht aus, nicht 1935 in Medellín bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, sondern schon weitaus früher ermordet worden zu sein. Mit ihren virtuosen, schwarz/weiß-flächigen Bildern treiben Muñoz/Sampayo ziemlich sehr intelligenten Unfug mit Mythen, nationalen Identitäten und anderen Themen, die ansonsten flugs mal pathetisch werden. Und natürlich sind sie dennoch Gardel-Fans, denn dessen Idee des Tangos ist schlicht unsterblich.

 

© Thomas Wörtche, 2013

 

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