kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-Auslese 12/2000

 

Broken Street Es gibt nicht viele Bücher, die wirklich unter die Haut gehen. Eines davon ist Buddy Giovinazzos neuer Roman "Broken Street". Gerade weil Giovinazzo sie so unrührselig vorträgt, brennt sich die Geschichte direkt in die Herzwand ein.

Giovinazzo erzählt von einem jugendlichen Kleinkriminellen, dessen Namen er - wenn ich's recht entsinne - an keiner Stelle erwähnt. Anfänglich gerade mal zwölf Jahre alt, wächst er auf in einer der gottverlassenen Gegenden in New York, die die Verwaltung schon lange aufgegeben hat und sich selbst überlässt. Der Vater, der - wie wir erst später erfahren - über den Krebstod seiner Frau nie hinweggekommen ist, versucht sein eigenes Schicksal in Alkohol zu ersaufen und konserviert es damit nur. Allein die alte, schwarze Nachbarin Mrs. Bailey kümmert sich ein wenig um den Jungen und dessen jüngeren Bruder Ray, und das auch schon mal mit Blicken, die einem das Gesicht zerkratzen. Doch Mrs. Bailey, der einzige Fixpunkt für Zuneigung im Leben der Brüder, stirbt bald.

Zentraler sozialer Ort sind die Baskettball-Courts, auf dem die Kids abhängen, mal einen Korb werfen, aber sich vornehmlich mit Dope und andere Drogen zudrönen, mit THC, Uppers und Downers, Pilze, LSD Speed, DMT - ganz egal. Und für eine Linie Koks kann man seine Jungfräulichkeit bei Huren verlieren, die selbst kaum den Kniestrümpfe entwachsen sind.

Die Brüder rutschen weiter ab: Aus der Dealerei mit Dope wird Dealerei mit Koks. Und Koks bringt die konkurrierenden Kolumbianer auf Trapp: Gangland gerät in blutigen Aufruhr. Autoklau, Einbrüche, Schießereien - schließlich der Knast; der Ort, wo eine scheinheilig Gesellschaft in der Regel die letzte Chance auf Resozialisierung verspielt:

"Drinnen, das waren Geräusche aus einer anderen Welt. Schrill. Durch die Gitterstäbe drang das Echo der Wehklagen des Wahnsinns, des Hasses und des Schmerzes, unterlegt von Anweisungen aus einer Lautsprecheranlage. Und immer gegenwärtig, die abgestandene, üble Luft, als bewegte man sich in einem Abflussrohr. Mir war speiübel, und ich kam gerade erst rein.

(...)
Im Speisesaal bekam man einen Löffel, mehr nicht. Verlor man ihn oder wurde er gestohlen, musste man wie ein Tier mit den Händen essen. Ich sah, wie ein Typ beim Kampf um seinen Löffel getötet wurde. Irgendein Irrer schlug ihn erst mit einem Metallhocker zusammen und hämmerte dann seinen Kopf auf den Boden, obwohl er schon längst bewusstlos war. Als die Ordnung wieder hergestellt worden war, schafften die Wärter die Leiche weg und ließen das Blut aufwischen. Ich verließ meine Zelle nur, wenn ich dazu gezwungen war. Nur hinaus auf den Gang zu gehen konnte eine Prügelei provozieren."

Giovinazzo erzählt von Menschen, die schon lange nicht mehr die Kraft aufbringen, sich von ihrem Elend abzuwenden. Er erzählt seine Geschichte hart und unsentimental. Selbst der Blick auf seine Hauptfigur ist mitleidslos. Giovinazzo zeigt aber auch , wie die Menschen in diesen Ghettos der brodelnden Gewalt und Auswegslosigkeit, in denen sich die Cops allenfalls blicken lassen, um die Leichen einzusammeln, versuchen zueinander zu halten: Er zeigt dies an ihren rührend ungelenken, aber herzaufrichtigen Gesten. Das toughe, coole Kiez-Kid lässt er in eine schräge Liebesgeschichte stolpern, der er emotional überhaupt nicht gewachsen ist und zu seinem eigenen Leid so richtig vermasselt. Und wie Giovinazzo die Figur des Vaters - anfänglich nur eine stinkig-versoffene Requisite, die neben dem Fernseher liegt - langsam aus seinem debilen Dämmerzustand hervorholt, stellt Frank McCourts "Angelas Ashes" in den Schatten.

Giovinazzos bewegender Roman hat nur einen Fehler - er hat ein Ende. Aber dieses Manko lässt sich dadurch ausgleichen, dass man gleich nochmal von vorne anfängt. Ich wette, das wird vielen so gehen.

Buddy Giovinazzo: Broken Street. (On Broken Street, 1998). Aus dem Amerikanischen von Ango Laina. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Maas Verlag, 2000 (Pulp Master Bd. 8), 322 S., 19.80 DM

 

Ein Gorilla zu viel Von einem Familiendrama in der Mailänder Haute Bourgeoisie weiß der junge Italiener Sandrone Dazieri in seinem Roman "Ein Gorilla zu viel" zu erzählen: Sandrone Dazieris Hauptfigur heißt Sandrone Dazieri, ist ehemaliger Detektiv einer Agentur, und verdient sich mittlerweile seine Lira als Miet-Gorilla. Sandrone Dazieri, die Figur, hat einen Partner, und der heißt auch Sandrone Dazieri. Denn Sandrone Dazieri, die Figur, ist schizophren: "Ich erwachte mit einem blauen Auge und schmerzenden Knöcheln an der verletzten Hand - ein gutes Zeichen. Mein Partner war offensichtlich auf etwas Interessantes gestoßen."

Alice Gardoni ist ein missratenes Kind: Statt in der elterlichen Prunkvilla zu residieren und den Tennisstunden zu folgen, hängt die Sechzehnjährige meistens mit Punkern in besetzten Häusern rum. Kein Wunder also, wenn sich die Eltern Gardoni um den friedlichen Ablauf einer kleinen, ganz ungezwungenen Festivität mit ein paar Hundert geladenen Gästen Sorgen machen. So ergeht der Auftrag an Sandrone Dazieri - die Figur - , die Abendgesellschaft vor dem plötzlichen Auftauchen der Punks zu schützen.

Töchterchen Alice steht derweil unter Obhut einer Krankenschwester, flieht aber aus ihrem Zimmer und verschwindet unter den Augen Sandrone Dazieries - der Figur - auf dem Rücksitz eines Motorrads. Doch war Sandrone Zeuge der Flucht eines eingesperrten Mädchens oder Zeuge eines Nervenzusammenbruchs einer jungen Frau, die nur bis zum Ende des Festes abwarten muss, und dann ganz friedlich aus der Haustür spazieren kann? Kurz darauf wird das Mädchen erschossen aufgefunden. Auf der Tatwaffe sind die Fingerabdrücke eines Mailänder Punks...

Eine dekadente Mailänder Patrizierfamilie mit arglosen Mailänder Punks zu kontrastieren, ist mitnichten subtil. Aus welcher Richtung das Verbrechen kommt, weiß man im Voraus. Und welcher ältere Schmutzfink an dem Hanseaten-Töchterchen rumknusperte, ist auch nicht abendfüllend. Dennoch: Die Schizophrenie Sandrone Dazieris - der Figur - , ist ein wunderbarer Einfall, aus dem sich viele überraschende und kurzweilige Situationen ergeben. Wenn Sandrone Dazieri - der Autor - auch noch eine vernünftige Geschichte zu erzählen hat, dann können wir uns in Zukunft auf Erbauliches gefasst machen.

Sandrone Dazieri: Ein Gorilla zu viel. (Attenti al Gorilla, 1999). Aus dem Italienischen von Barbara Neeb. Deutsche Erstausgabe. Dortmund: Grafit, 2000 (Krimi International), 249 S., 16.80 DM

 

Totengeld Vernünftige Geschichten erzählt immer der Amerikaner Joseph Hansen, dessen Dave-Brandstetter-Romane in einer von Robert Schekulin überarbeiteten Übersetzung im Hamburger Argument-Verlag erscheinen. Gerade rausgekommen ist "Totengeld", der zweite Roman der Reihe. Hansen erzählt von dem Antiquar John Oats, der sich bei einem Unfall fürchterliche Verbrennungen zuzog und auf dem schmerzstillenden Morphium hängengeblieben ist. Als John Oats Leiche an den Strand von Arena Blanca angespült wird, denkt zunächst keiner an Mord. Auch die Polizei erkennt auf Unfalltod.

Nicht so David Brandstetter, schwuler Ermittler der Medallion Lebensversicherung, Abteilung Auszahlung bei Todesfällen. Denn John Oats hatte eine Lebensversicherung auf eine stattliche Summe abgeschlossen, die seinem Sohn Peter zugute kommen sollten. Peter und sein Vater galten als ein Herz und eine Seele. Dennoch wollte John Oats kurz vor seinem Tod das Testament ändern und Peter als Begünstigten streichen.

Peter ist seit dem Tod des Vaters verschwunden. Keiner weiß, wo er steckt, doch werden ihm enge Kontakte zu dem Fernsehstar Wade Cochran nachgesagt. Cochran ist bekannt für sein blütenweißes Image: er lebt bei seiner Mutter, raucht nicht, trinkt nicht und gibt nach außen christdemokratische Tugenden zum Besten.

Hansen erzählt sein Familiendrama in bestechend unaufgeregter Sprache. Fast wie im Theater führt er den Leser von einer Szene zur nächsten. Die szenische Verdichtung der Handlung kontrastiert Hansen mit einer opulenten Beschreibungsflut: kein Schauplatz, der nicht genauestens abgebildet wird. Ein unprätentiöses, kleines Meisterstück.

Joseph Hansen: Totengeld. (Death Claims, 1973). Dave Brandstetters zweiter Fall. Aus dem Amerikanischen von Friedrich A. Hofschuster und Robert Schekulin. Hamburg: Argument Verlag, 2000 (1. Aufl. - München: Goldmann, 1984 unter dem Titel »Keine Prämie für Mord«), 189 S., 14.80 DM

 

Im Heyne-Verlag sind in den letzten Wochen in einer Sonderauflage und schöner Aufmachung ein knappes Dutzend Titel aus dem "Haffmans-Nachlass" erschienen. Darunter sind lange vergriffene Texte von Joe Gores, Kinky Friedman, Ross Thomas, George Baxt und anderen. Auch wenn Sie gerade keine Zeit zum Lesen haben, zögern Sie nicht: Die Bücher werden demnächst wieder vom Markt verschwinden.

Alte Knochen Die Leichen im Keller der Bourgeoisie ist ein beliebtes Sujet der französischen Kriminalromane. Eine geistreich-vergnügliche Variante liefert der Amerikaner Aaron Elkins mit seinem Roman "Alte Knochen".

Die Familie du Rocher ist tief zerstritten. Die Wurzeln reichen bis zum zweiten Weltkrieg, den nicht immer rühmlichen Kapiteln unter deutscher Okkupation: Die Brüder Guillaume und Alain hatten sich der Résistance angeschlossen, ihr Schwager Claude hingegen stand in den Diensten der Kollaboration. Claude verzichtete darauf, seinen Schwager vor einer drohenden Verhaftung zu warnen; Alain wurde von der SS ermordet.

Fünfzig Jahre später ruft Guillaume die zerrissene Familie wieder zusammen. Doch bevor er sie von seinem Anliegen unterrichten kann, wird der alte Mann beim Muschelsuchen von der Flut überrascht und ertrinkt. Nicht nur das Testament wartet mit einigen Überraschungen auf: Zwei Tage nach dem Ableben Guillaumes finden Handwerker im Keller seines Anwesens ein Skelett.

Lucien Anatol Joly, inspecteur principal der Kriminalpolizei, bittet den forensischen Anthropologen Gideon Oliver um Hilfe. Der Amerikaner nimmt an einem Fachkongreß in St. Malo teil. Nur Stück für Stück gelingt es Oliver, den "alten Knochen" ihr Geheimnis zu entlocken. Und irgendjemand scheint ein vitales Interesse zu haben, den Spezialisten bei seiner Arbeit zu stören.

"Alte Knochen" ist nicht nur ein wunderschön altmodischer Kriminalroman; das Buch wartet darüberhinaus mit einer soliden Geschichte, präzisen Figuren und witzigen Dialogen auf. Charmante Unterhaltung.

Glitz Einen ganz anderen Weg beschreitet Altmeister Elmore Leonard in seinem ebenfalls lange vergriffenen Roman "Glitz". Leonard gönnt dem Leser nicht eine Figur, mit der er sich identifizieren wollte. Und er gönnt einem auch keine stringente Handlung, die von einem Ausgangspunkt (etwa einem Mord) konsequent zur Auflösung (dem Mörder) geführt wird.

Los gehts's in Puerto Rico: Vincent, Bulle aus Florida, erholt sich am Strand von einer Schußverletzung. Teddy Magyk wurde jüngst aus dem Knast entlassen. Er will sich an Vincent rächen, weil dieser ihm die siebenjährige Haftstrafe eingebrockt hatte. Doch Vincent kommt Teddy zuvor: Mit seinen Freunden bei der puertoricanischen Polizei zwingt er Teddy, die Insel wieder zu verlassen. Ein paar Tage darauf erfährt Vincent von dem gewaltsamen Tode einer Freundin in Atlantic City. Er ermittelt auf eigene Faust: Die Spuren führen ihn zu illegalen Spielen, die in den Hinterzimmern der großen Casinos für liquide Mafiosi und kolumbianischen Drogendealer veranstaltet werden.

Außerhalb seines amtlichen Zuständigkeitsbereiches ist Vincent nicht an die üblichen Regeln gebunden: Er initiiert sein eigenes Spielchen, das er allerdings nicht immer kontrollieren kann.

Zusammengehalten wird die Story von der Figur Teddy Magyk: eine groteske Gestalt, eine Inkarnation des Bösen, die Leonard ungemein feingliedrig zeichnet. Es ist eine der verstörendsten Figuren in der Geschichte der Kriminalliteratur. "Glitz" ist ein moderner Klassiker und gehört in jedes Bücherregal.

Aaron Elkins: Alte Knochen. (Old Bones, 1987). Roman. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. München: Heyne, 2000 DM (1. Aufl. - Zürich: Haffmans, 1992), 263 S., 14.00 DM.

Elmore Leonard: Glitz. (Glitz, 1985). Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans Ewald Dede. München: Heyne, 2000 (1. Aufl . - Zürich: Benziger, 1986), 348 S., 14.00 DM

 

© j.c.schmidt, 2000

 

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