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Leichenberg 09/2015

 

Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong

Ein Polit-Thriller von einem nicht-exilierten Autor aus der VR China ist nicht gerade alltäglich auf unserem Markt. Aber voilà: Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong von Mai Jia (dva). Herr Rong ist ein mathematisches Genie mit nicht nur leicht autistischen Zügen. Verschlossen, verschroben, deformiert, kaum sozialkompatibel. Trotzdem macht er eine steile Karriere im maoistischen Geheimdienst. Denn Herr Rong ist ein Codeknacker von Gnaden, ein Kryptoanalytiker, den das Regime unbedingt braucht. Mai Jias Roman beschreibt Aufstieg und Fall des seltsamen Mannes, eingebettet in die Familiengeschichte der Rongs, Genies allesamt, von der Mitte des 19. bis ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts - also Kaiserreich, Kuomintang-Zeit, japanische Besatzungszeit und schließlich die Periode des Maoismus, einschließlich der "Kulturrevolution", die auch (und besonders) Genies nicht verschonte. So entsteht ein Riesenpanorama der chinesischen Geschichte, gesehen mit dem Blick von innen. Mia Jia ist sicher kein Dissident, in China ist er eine große Nummer, ein Millionseller, aber er ist kein Schönzeichner. Er zeigt ein weltoffenes China am Anfang des Buches, das vom internationalen Austausch lebt, und ein abgeschottetes Land nach der Revolution, einen allmächtigen Überwachungsstaat mit einer privilegierten Funktionärskaste, einem allgegenwärtigen Geheimdienst, dessen Raison sich um Einzelschicksale nicht stört. Der arme Herr Rong, dessen Talent ihm tatsächlich zum Verhängnis wird, irrt durch eine labyrinthisch-kafkaeske Welt aus Hochsicherheitsanlagen, manipuliert von den eigenen Leuten und subtilen Attacken gegnerischer Dienste ausgesetzt. Nachdem er einen Supercode geknackt hat, wird er zum hofierten Helden, als er am nächsten, womöglich noch raffinierten Verschlüsselungssystem scheitert, verfällt er dem Wahnsinn. Mai Jia folgt dabei nicht den westlichen Mustern von Polit-Thrillern, sondern inszeniert seine Geschichte multiperspektivisch, mäandernd, vollgestopft mit historischen Exkursen, viel Mathematik, Mystik, Psychologie und reinem Irrsinn. Seine Welt ist, wie ein Supercode, nicht zu entschlüsseln, selbst die Autorfiktion besitzt den entscheidenden Schlüssel nicht, den zu finden auch Herr Rong gescheitert ist. Und am Ende sind keinesfalls alle Handlungsfäden fein säuberlich aufgedröselt, glücklicherweise. Ein rätselhafter, seltsam-faszinierender Roman, der trotz des spröden, manchmal abstrakten Stoffs extrem lesbar ist. Nur flauschigen Lesespaß darf man nicht erwarten.

Der Anhalter

Ganz anders Lee Childs Der Anhalter (Blanvalet). Jack Reacher ist mal wieder als Anhalter unterwegs zu seiner geheimnisvollen Lady in Virginia, die wir auch diesmal nicht kennenlernen. Und steckt plötzlich inmitten einer verwirrenden Geheimdienstoperation tief im unbehausten Mittleren Westen. Homeland Security, FBI und CIA und eine islamistische Terrorzelle haben sich an der Kehle, wer zu wem gehört ist unklar. Wer ist Doppelagent, wer Maulwurf, wer Undercover? Und so muss Reacher auch diesmal aufräumen, obwohl auch er am Ende nicht genau weiß, was da so wirklich gelaufen ist. Kernstück des Romans ist eine lange Autofahrt, während der Reacher zu entschlüsseln sucht, wer von seinen drei Mitfahrern wer ist, wie sie zueinander stehen, wer zu den Guten gehört, wer zu den Bösen. Das ist ein großartiges Kammerspiel, dribbeln auf einem Bierfilz, sozusagen. Child at his best. Und da ist sein fasziniert-geniales Feeling für dunkle, riesige leere Landschaften, für aufgelassene Militäranlagen, für UFO-ähnliche Motels und Tankstellen im Nichts, für klaustrophobe Kleinstädte, an denen er sich nicht satt schreiben kann. Reacher kartographiert das Nichts, das mit tödlichen Fallen gespickt ist. Manchmal fühlt man sich wie in Jean Baudrillards »America« oder wie in einer von James Graham Ballards postzivilisatorischen Einöden à la »Hello, America!«. Die Mechanik des üblichen Shootouts, diesmal in einem alten, verrotteten Raketensilo aus dem Kalten Krieg, die Child nicht mehr besonders zu interessieren scheint, wird kreativ von der Szenerie und der kalten, kristallinen Atmosphäre überlagert.

Freedom's Child

Ebenfalls meistens im ländlichen Amerika spielt Jax Millers Debut-Roman Freedom's Cild (Rowohlt Polaris). Die Heldin Freedom Oliver heißt nicht wirklich so. Sie ist im Zeugenschutzprogramm, weil sie einen schrägen Deal gemacht und ihren widerwärtigen Schwager für einen Mord hingehängt hat, den er ausnahmsweise nicht begangen hat. Ihre Kinder allerdings hatte sie zur Adoption freigeben müssen. Jetzt, zwanzig Jahre später, wird der Schwager entlassen und ist mit seiner nicht minder widerwärtigen Sippe (vor allem die sich zu Tode fressende Mutter ist sehr schön gelunen) hinter ihr und den Kindern her. Freedom muss aus ihrer 20jährigen Apathie, die sie mit Sex, Drogen und Alk übertäubt hat, lösen und aktiv werden. Freedom's Child ist ein unordentlicher, unbehauener Roman, vulgär, zerfleddert, von Sub-Plots zerrissen, nicht unbedingt stringent und nicht unbedingt aufgeräumt. Schnell hingerotzter Pulp. Aber diese Verweigerung von Form und Format trägt wesentlich zum Charme des Buches bei. Der erzählerische Drive ist beachtlich. Problematisch ist allerdings die Hauptfigur. Die Triebfeder allen Handelns von Freedom sind ihre Kinder. Weil sie sie vermisst, säuft und fickt sie durch die Gegend; um sie zu retten, befreit sie sich von ihren "Lastern" und legt los. Ohne Kinder ist eine Frau nichts, die family values sind zentral, sie erscheinen als letzte Klammer einer sonst noch so disparaten us-amerikanischen Gesellschaft. Und dieses Pathos nervt ungemein, weil Freedom deswegen keine "autonome" Frau ist, wie etwas Sara Grans Figur Claire DeWitt, auch sie sexuell aktiv, gewaltausübend und drogenaffin, aber ohne penible Herleitung. Freedom Miller ist eine Ableitung des Mutterseins und insofern, bei allem wüsten Gebaren, gesamtgesellschaftlich konsensual. Aber es rentiert sich auf jeden Fall, Jax Miller im Auge zu behalten.

Umnachtung

Unterm Schirm durchgerutscht, aber dennoch unbedingt zu empfehlen ist Miron Zownirs Berlin Noir Umnachtung (mox & maritz). Ähnlich wie Zownirs verstörende Fotographien, seine Kurzprosa und seine vielfältigen Multimedia-Projekte ist »Umnachtung« erfreulich radikal. Eine tragische Vater-Sohn-Geschichte in einem wahnsinnigen, rottigen Berlin, das dennoch nicht den Chic des Desolaten ausstrahlt, sondern wirklich desolat ist. So wie sein Personal: Der verkommene Polizist Berger und sein Taugenichts von Sohn, Nick, die beide an ihrer Umwelt verzweifeln. Keine modisch gebrochene Figuren, sondern komplexe Menschen, die unsere Gesellschaft richtig fertig gemacht hat. Planetenfern von kuscheligen Berlin-Krimis entfernt, ist »Umnachtung« ein böser, gemeiner, schmutziger, genauer, kitschfreier und sehr intelligenter Roman aus dem Geiste von Derek Raymonds "Factory"-Serie. Solche Kriminalromane brauchen wir dringend.

 

© Thomas Wörtche, 2015

 

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