legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Wörtches Crime Watch 01/1998

James Graham Ballard und Jack O'Connell

 

Was Schubladen und das dito Denken anrichten können, sieht man sehr schön am Beispiel des britischen Erzählers James Graham Ballard: In den 60er Jahren galt er als hervorragender Vertreter der "New Wave" in der Science Fiction, also als jemand, der den inner space interessanter als den outer space fand. In den 70ern firmierte er als "Sozialsatiriker" - wegen seiner in der Tat harschen Attacken auf den modern way of life. Romane wie "High-Rise" (dt. Titel damals: "Der Block"), eine grausame Parabel über Wohnsilos oder "Crash" (1996 skandalträchtig von David Cronenberg verfilmt), die völlig wahnsinnige, pornographische Apokalypse des Fetischs "Auto" wurden verlegen in "SF-Reihen" versteckt. Erst sein autobiographischer Roman "Das Reich der Sonne" (von Spielberg verfilmt), der von seiner Jugend in Shanghai erzählt, machte ihn "seriös". Ein weiteres semi-biogaphisches Buch, "Das grosse Herz der Frauen", floppte, und seitdem ist es zumindest in Deutschland sehr ruhig um Ballard geworden. Hin und wieder dümpelt mal wieder ein Titel durch die einschlägigen "SF"-Reihen.

Die kleine "Edition Phantasia" hat sich seit einigen Jahren der Texte Ballards angenommen und bringt sie, sorgfältig übersetzt und schön illustriert heraus, erstmals oder revidiert.Darunter auch "Running Wild. Das Pangbourne-Massaker" aus dem Jahr 1988. Ein sehr schlanker, komplexer Text, der deutlich macht, daß man mit Schubladen aller Art bei Ballard nicht weiterkommt. "Running Wild" ist ein eisiges Protokoll über ein merkwürdiges Massaker in einer blitzbank geputzten Wohnanlange für den besserverdienenden Mittelstand des Thatcher-England. Alle Erwachsenen werden eines Tages tot aufgefunden, alle Kinder sind verschwunden. Was ist passiert? Ballard spielt eine Menge Möglichkeiten durch, keine ist stichhaltig und die wahrscheinlichste arg unbehaglich: Die "grenzenlose Toleranz", das gnadenlose "Verständnis" die Tyrannei des Benevolenten, der Horror des aufgeräumten Mittelstandes, die unendliche "Freiheit", die sich auf hohe Einkommen und sonst gar nichts gründet - das alles erweist sich als Urgrund für Terrorismus.

Ballard behauptet nichts, seine Versuchsanordnung bietet nur Optionen an. Und das scheint mir ein probater Umgang mit der Wirklichkeit zu sein. Der Text zeigt überdies, daß Ballard ein sträflich vernachlässigter Autor ist, wahrscheinlich weil er seine unangenehmen Bücher nicht einmal in die Tröstungen der sicherer Kategorien verpackt.

Völlig resonanzlos durchgerutscht ist 1995 die Hardcover-Ausgabe (bei Zsolnay) von Jack O'Connells vor Intensität und Wahnsinn vibrierendem Roman "Box Nine". Jetzt gibt es unter dem nichtssagenden Titel "Nirgendwo in keiner Stadt" die Taschenbuchausgabe, immerhin. Wie Ballards Erzählung ist auch der Roman von O'Connell ein Wegweiser für die Richtung, in die Kriminalromane sinnvollerweise gehen können. In Quinsigamond, einer Stadt irgendwo bei Boston, verfällt Lenore Thomas, die drogensüchtige Detektivin beim Drogendezernat, Waffenfetischistin und Heavy Metal-Freak, deren Poe'scher Name kein Zufall ist, allmählich dem Wahnsinn. Oder schafft sie nur mentale Waffengleichheit für ein Showdown mit dem Dealer Cortez, der sich am liebsten mit seinen Büchern in eine Anden-Höhle zurückziehen möchte? Aber ein Showdown würde die Welt sortieren - und das geht so nicht.

"Box Nine" ist ein vielschichtiger, mit raffinierten Erzählschachzügen operierender Roman, der Sprach- und Weltverwirrung gleichermaßen traktiert. Eine Designer-Droge, die auf dem Postweg vertrieben werden soll, heißt "Lingo" und greift (eben!) das menschliche Sprachzentrum an. Und sie stammt aus keineswegs illegalen Labors. Der "Krieg gegen die Drogen" ist ein bizarres Schlagwort, denn er trägt Krieg in die Gesellschaft, die sich emsig zerfleischt. Politik, Polizei, Narcotraficantes und subventionierte Hochschulforschung springen Quinsigamond an die Kehle. Lenores Bruder Ike, der reine Tor bei der Post, überlebt sprachlos und am Ende plappert nur noch das allgegenwärtige Radio.

Jack O'Connell hat nicht etwa einen Meta-Kriminalroman geschrieben, sondern einen Roman, der Sprache und kriminelle Handlung in einen literarischen Zusammenhang bringt.

 

© Thomas Wörtche, 1998

 

James Graham Ballard:
Running Wild.

Das Pang-bourne-Massaker.
(Running Wild, 1988).
Dt. von Joachim Körber,
Ill. von Reinhard Kleist.
Bellheim: Edition Phantasia 1997.
79 Seiten, DM 88.-

Jack O'Connell:
Nirgendwo in keiner Stadt.

(Box Nine, 1992).
Dt. von Peter Robert.
Bergisch-Gladbach: Bastei 1997,
478 Seiten, DM 12,80

 

«Wörtches Crime Watch 12/1997 zurück zum Index Wörtches Crime Watch 02/1998»

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen