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Wörtches Crime Watch 03/1998

Tom Kummer und Berenice Abbott

 

Eine "phantastische Landschaft" nannte die Photographin Berenice Abbott das New York City in den 30er Jahren. Für den Schweizer Journalisten Tom Kummer ist das Los Angeles der mittleren 90er Jahren eine "Stadtwüste". Beiden sind ihre jeweiligen "Städte" Subjekt und Objekt. Beide wollen "Amerika" interpretieren. Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt zwischen ihnen, ihre Medien sind grundverschieden. Es hat sich viel verändert seit 1930, und die Verschiebung des Interesses von New York nach Los Angeles hat viel mit der Verfassung unserer Zeit zu tun, insofern mag ein Vergleich zwischen der Fotographin und dem jungen Reporter nicht allzu ergiebig sein. Aber das berühmte tertium ist doch datur. Denn wer etwas interpretieren oder verstehen will, tut dies anhand von Bildern, die ihrerseits Interpretamente von Realitäten sind. Was man wie dabei sehen will (d.h. auch nicht sehen will), ist entscheidend für Gelingen oder Scheitern des Projektes.

Die Papierform spricht dabei für Reporter, der ganz explizit der kriminellen Energie von L.A. auf die Schliche kommen will. In seinem Band "Good Morning Los Angeles", einem Text, der zwischen reportagehaften und fiktionalen Teilen schwankt, hängt Kummer sich dazu an einen "Videojournalisten". Dieser Chuck ist einer der fixen Jungs, die immer hinter frischen Bildern von Mord, Gewalt, Blut und Modder her sind. Je schmieriger die Aufnahmen, desto höher der "Marktwert". Es wird gefaket und gefälscht. Das wiederum ist für Kummer ein Signum für die grundsätzliche "Unwirklichkeit" der Stadt.

Und weil L.A. auch die Stadt ist, in der reality zunehmend als virtual definiert, produziert, distribuiert und in Profit verwandelt wird, sucht der Reporter einen inneren Zusammenhang zwischen dieser "Industrie" und ihrem Ort. Alles wird zum durchgedrehten Zeichen, zum Symbol - zum "permanenten lautlosen, semiotischen Urknall", wie Claudius Seidl im Nachwort schreibt. Kummer ist davon fasziniert, und sein "Ich" artikuliert sich in lauten "ich, ich"-Schreien. Wir erfahren, was es ißt, wie paranoid es ist, wen es vögelt und was es anhat. Diese Perspektive bringt es dann tatsächlich fertig, die Stadt L.A. in einem Nebel von Potentialitäten, Fiktionalitäten und Virtualitäten unkenntlich verschwimmen zu lassen. Das mag ein amüsantes intellektuelles Spiel sein, aber die Gegenstände dieses semifiktionalen Spiels werden dadurch nicht fiktionaler. Die Leichen, die Chucks Videokamera aufnimmt, die Toten der Gang-Kriege, die Brutalität des LAPD, die Gewinne der Immobilienhaie werden kein bißchen weniger konkret und keinen Deut virtueller. Schon komisch, daß sich Kummer selbst gerne auf dem Schießstand und mit der .375er stilisiert, wo wir es doch nur mit "semiotischen" Knallereien zu tun haben. Oder? Insofern ist sein Buch bloß ein verzweifeltes Wegbeten und Wegwünschen der unschönen Realität, die sich angeblich der Analyse entzieht, und die Bitte, sie möge das schicke Virtuelle nicht stören.

Viel handfester, aber dabei viel analytischer und interpretationstüchtiger Berenice Abbotts Photoband "Changing New York", über dessen Entstehungsgeschichte die Einführung von Bonnie Yochelsen ausführlich berichtet. Die Bilder, die zwischen Depression und New Deal entstanden, als New York in die Klauen der Spekulanten geraten war, zeigen in schlichten Details, wie und wo Kriminalität entsteht, wie sie gemacht wird, von wo sie gesteuert wird und wo sie sich auswirkt. Die sich wandelnde Topographie New Yorks bietet ein brauchbares mapping of crime. Die Bilder von der Lower East Side, klassisches tribesland, wie sie Jerome Charyn in seinen Romanen zeigt, oder die Middle West Side, das Territorium der irischen Gangs (der Westies), manifestieren dies in den von Abbott mit distanziertem, aber engagiertem Blicks beobachteten Strukturen von Holz, Pappe, Glas, Stahl und Beton. "Verbrechen" kommt als Begriff oder Thema bei ihr nie vor, aber ihre Fotos sind Komplementärstücke zu denen ihres Kollegen Weegee. Der hatte zerschossene Leiber auf den New Yorker Straßen gezeigt. Berenice Abbott hat die makro-strukturellen Hintergründe dafür festgehalten.

Die gibt es auch heute in Los Angeles, man muß sie nur sehen. Sie sind keineswegs virtuell.

 

© Thomas Wörtche, 1998

 

Berenice Abbott:
Changing New York.

Hg. von Bonnie Yochelsen.
München: Schirmer/Mosel 1998.
400 S., 307 Duotone-Tafeln, 113 Abbildungen. DM 148.-

 

Tom Kummer:
Good Morning Los Angeles.

Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit.
München: dtv premium 1997.
227 Seiten, DM 28.-

 

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