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Wörtches Crime Watch 11/2005

 

Reggie Nadelson: Russische Verwandte

 

Russische Verwandte Das Asperger-Syndrom ist eine Form von Autismus. Ein wichtiger Indikator für die in den USA auch geek-syndrome genannte Krankheit ist die "fehlende soziale oder emotionale Gegenseitigkeit", wie ein offizielles Diagnosekriterium lautet.

Um einen mörderischen Asperger-Patienten geht es vordergründig in Reggie Nadelsons Roman »Russische Verwandte«. Die Autorin aus New York ist durch eine etwas blauäugige, aber wackere Dean-Reed-Biographie aufgefallen und durch mehrere, qualitativ eher schwankende Kriminalromane um den New Yorker Cop Artie Cohen.

Mit dem aktuellen Roman allerdings hat sie einen bemerkenswerten Sprung geschafft. »Russische Verwandte« handelt vom psychosozialen Klima in New York nach dem 11. September 2001, ohne deswegen ein 9/11-Roman zu sein. Artie Cohen, der eingebürgerte Russe, der über Israel nach New York City gekommen ist, arbeitet als Mitglied eines Spezialeinheit gegen Kinderschänder beim NYPD. Seine Dienststellung dort ist ebenso unklar wie die Intentionen und Machinationen seines Chefs Sunny Lippert. Beide stammen literarisch gesehen aus dem mythisch-hyperrealistischen Universum von Jerome Charyn, in dem nicht nur die Grenzen zwischen Gut und Böse irrelevant sind, sondern sich die Protagonisten zwischen den einzelnen Welten des Planeten New York City frei changierend hin- und her bewegen.

Die russische Mafia, Cohens erratischer Freund Tolja, die Biotope der Reichen und Mächtigen von Tribeca und die italienisch-jüdischen Residuen des "alten" Brooklyn, die Russen in Brighton Beach und die neuen Exekutoren des "Patriot Act" bilden den Humus, auf dem Reggie Nadelson ihren komplizierten Cop-Helden agieren lässt. Blutige Kinderkleider sind gefunden worden, ein Mädchen ist ermordet, ein zweites verschwunden. Und jetzt ist auch Billy verschwunden. Die Stadt dreht durch. Hysterie und Panik, Xenophobie und Paranoia schütteln den Big Apple, ein Schneesturm und anschließendes Glatteis legen den Koloss fast lahm. Im Internet werden Leichtenteile versteigert, SARS heizt die allgemeine Verunsicherung an und die Regierung produziert mit jeder Verlautbarung, mit jeder neuen Alarmstufe die schlimmsten Ängste einer zutiefst manipulierbaren, neurotischen Nation.

Je tiefer Cohen bohrt, desto unschöner fliegt ihm seine eigene Familiengeschichte um die Ohren. Nichts ist, wie es sein soll, gar wie es scheint. Dass er noch Familie in Israel hat und damit auch Kontakte zu arabischen Menschen, rückt selbst den besten aller guten Amerikaner, Cohen, ins Visier nicht näher identifizierbarer Mächte. Sie verfolgen ihn, brechen in seine Wohnung ein, hören ihn ab, bedrohen und verprügeln ihn. Sündenböcke werden auf- und wieder abgebaut, Zeichen und Spuren führen ins Nichts. Reggie Nadelson demonstriert beachtliche Meisterschaft bei der Inzenierung des Ambivalenten, Vagen, Angedeuteten, Möglichen, Denk- und Undenkbaren. Und sie wagt es dankenswerterweise, nicht den angeblichen Genre-Konventionen zu folgen. Sie löst am Ende keinesfalls alles auf. Es bleiben schartige, scharfkantige Reste. Und genau diese Reste lassen den Roman so prächtig funktionieren.

In diesem Prinzip steckt nebenbei ein Stückchen Hoffnung, dass sich Kriminalliteratur allmählich wieder von ihrem vom Marketing diktierten, genrehistorisch aber längst überholten Zwang zum formalen Korsett zu befreien beginnt. Es wäre auch zu absurd und peinlich, eine komplexe Geschichte aus einer komplexen Stadt mit einer komplexen Seelenlage über sehr komplexe Figuren genre-konventionell passend glattschleifen zu wollen. Es wäre, mit anderen Worten, der Kriminalliteratur eine Ideologie aufgepropft, die sie sui generis nicht hat.

Kriminalliteratur ist keine Kuschelliteratur für zarte, ordnungsliebende Gemüter. Deswegen Nadelsons Rekurs auf das unaufgeräumte Pandämonium von Charyn, deswegen wie bei Jonathan Lethems kapitalem Roman »Motherless Brooklyn« die medizinische Diagnose als präzise Metapher für den heillosen Zustand einer Gesellschaft. "Vor allem begreifen sie andere Menschen nicht", heißt es über den Asperger-Patienten. "Genau wie dieses ganze verdammte Land, wir sind völlig auf uns selbst konzentriert, wir haben keine Ahnung, was die anderen denken oder fühlen." That's America today.

Reggie Nadelson: Russische Verwandte. (Disturbed Earth, 2004). Kriminalroman. Aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann. Deutsche Erstausgabe. München: Piper Original, 2005, 396 S., 14.00 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2005

 

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