legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Jörg Juretzka: Der Willy ist weg

 

Teil 2 des Vorabdrucks, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Rotbuch Verlages.

 

Klicken Sie hier für den ersten Teil des Vorabdrucks

 

Der Willy ist weg     Kies knirschte unter den abgelatschten Tretern des Transporters, als er vor dem Portal vom "Fuckers' Place" ausrollte. Ich ging vom Gas, und wie immer versuchte es der betagte Vierzylinder noch ein paar Umdrehungen lang ohne die Unterstützung meines rechten Fußes, gab dann aber unter Husten und Röcheln entmutigt auf und verstummte.
   Jedes einzelne Fenster der Villa war festlich erleuchtet. Musik drang heraus in die Nacht. Ein Männerchor. Im Takt gehalten von stampfendem Disco-Beat. Eine schmissige Hymne auf die trefflichen Dienste, die der Christliche Verein Junger Männer einsamen, jungen Männern zu bieten hat. Und, ohne auch nur einmal Luftzuholen, folgte in direktem Anschluss eine Ode an die Vorzüge eines Lebens bei der Navy.
    Sie mussten Scuzzi an den Plattenteller gelassen haben. Nicht, dass wir uns hier missverstehen: Mein Freund Pierfrancesco ist nicht homosexuell. Er mag einfach solche Musik. Er mag, um es kurz zu machen, jegliche Musik. Einzige Voraussetzung ist, glaube ich manchmal, dass sie mir wider die Natur geht.
    Ich stieg aus. Ein paar der hell erleuchteten Fensterscheiben hatte man durch Pappe ersetzt. Das war neu. Eine Kassette der Haustür war recht grob mit einem Stück Schaltafel vernagelt. Das war auch neu. Und an der hellgrauen Muschelkalkfassade prangte rot der offenbar mit einiger Hast gesprühte Einzeiler

IHR SEIT ALLE TOD

    Nicht ohne mystische Tiefe, wie ich fand. Was war denn bloß los gewesen? Ich sah mich um. Auf dem zertrampelten Rasen lagen hier und da Pflastersteine herum, Holzknüppel, ein Jackenärmel. Eine Ansammlung von Menschen schien, dem Augenschein nach, den Versuch unternommen zu haben, ohne Einladung in das Domizil der Stormfuckers, MC, vorzudringen. Da wir bei meiner Abreise nach Amsterdam noch in einem mühsam erreichten, relativen Frieden mit allen rivalisierenden Gruppierungen gestanden hatten, mussten es die Jungs irgendwie geschafft haben, sich im Verlauf der letzten Woche eine ganze Bande frischer, nagelneuer Feinde zu schaffen.
    Das überraschte mich nicht. Ein Grossteil der Stormfuckers lebte in erster Linie von ihrer Erscheinung. Sie erschienen bei Rockkonzerten, sie erschienen vor Discotüren, sie erschienen zuhause bei Leuten, die meinten, Spiel-, Drogen- oder sonstige Schulden seien nichts, das man wirklich ernst nehmen müsse. Meist genügte ihre Ausstrahlung, Friedfertigkeit und Vernunft zu verbreiten. Grosse, breite, haarige, ledergewandete, an delikaten und weniger delikaten Stellen tätowierte und gepiercte, einander zu unverbrüchlicher Loyalität verschworene Männer wie sie treten gerne mit einer Art kollektivem Selbstbewusstsein auf, das geeignet ist, Nachdenklichkeit auch in den hitzigsten Köpfen zu inspirieren. Und doch gibt es immer wieder welche, bei denen die Nachdenklichkeit in einen, wie soll ich sagen, nicht selten alkoholbefeuerten, gewalttätigen Groll umschlägt. Solche Leute kommen oft erst im Krankenhaus wieder zu sich und sind in der folgenden Zeit recht häufig der Ansicht, uns irgendetwas zu schulden.
    Ich sage 'uns', denn ich gehörte zweifelsfrei dazu, auch wenn ich mein eigenes Gewerbe hatte und mich aus ihren Kleinkriegen mit der Konkurrenz und den Kloppereien mit allen möglichen Optimisten so gut es ging heraushielt.
    So gut es ging, echote ich bitter und humpelte die Treppen zum Eingang hoch, aus Kloppereien heraushielt.
    Ich schloss die Haustüre auf, ließ mich ein und Phil Collins' Säugling-mit-nassen-Windeln-Gegreine waberte mir entgegen wie Klang gewordener Hundeatem.
    So, dachte ich, jetzt brechen wir erst mal Scuzzi beide Arme und dann sagen wir Guten Abend Allerseits.

 

    Gäste soweit das Auge reichte, doch kaum jemand beachtete mich. Es war spät geworden, und viele der Anwesenden waren mittlerweile in einem Zustand, in dem sich die Wahrnehmung nach innen kehrt. Wenn sie nicht gänzlich erlischt.
    Ende der 60er muss es gewesen sein, als jemand die oft wiederholte Behauptung aufgestellt hat, Drogen erweiterten das Bewusstsein, und wir haben seitdem immer noch nicht wieder aufgehört, darüber zu lachen.
    Ein mächtiges Feuer, durchzogen von glühenden Sprungfedern, prasselte im Kamin der Empfangshalle. In mehr als nur einer Ecke hatte sich die Wahrnehmung des einen oder anderen Partygastes nach außen gekehrt, begleitet vom jeweiligen Mageninhalt. Phil Collins' Straßenbahn-in-enger-Kurve-Tonlage fing an, eine Art von Elektrolyse in meinen Zahnfüllungen auszulösen. Entschlossen arbeitete ich mich durch das allgemeine Getorkel bis zum Plattenspieler vor und lehnte mich mit der Handfläche auf den Tonarm, bis die Nadel eine völlig neue Spur quer durch das Vinyl gezogen hatte. Auf der improvisierten Bühne am Kopfende der Halle hob der Drummer der 'New', Mülheims uneinholbar ältester Rockband, den Kopf von seiner Trommel und begann, einen Takt zu schlagen. Mitglieder seiner Combo beendeten unter saugenden und schmatzenden Geräuschen ihre rekreativen Tätigkeiten und eilten aus allen Ecken des Hauses zusammen für eine weitere Sitzung. Wir hatten einen Vertrag mit ihnen, in den ich eigenhändig eine Passage eingefügt hatte, die es ihnen bei Strafe verbot, irgendeinen von einem gewissen Pierfrancesco Scuzzi geäußerten Musikwunsch zu erfüllen, also konnte ich mich einigermaßen beruhigt in die Küche aufmachen. Mein Magen knurrte, und meine Batterien konnten einen Spritzer von dem hochkonzentrierten Erfrischungsgetränk vertragen, das bei feierlichen Anlässen im Fuckers' Place unter der verharmlosenden Bezeichnung 'Bowle' kredenzt wird.
    Unterwegs kamen mir Charly und Hoho entgegen, Arm in Arm. Sie hätten ein Fußballtor ausgefüllt, von Pfosten links zu Pfosten rechts und oben bis knapp unter die Querlatte. So groß waren sie. Und so breit.
    Hoho war der größte und (Vorsicht, jetzt, er kann lesen, auch wenn sein Unterkiefer dabei mitarbeitet wie bei einem wiederkäuenden Kamel), schlichteste, ja, unter den Stormfuckers, und Charly war ihr Präsident. Charly hieß wirklich so, von Geburt an, doch Hohos eigentlicher Name war Bernd-Dieter Lüthinghaus. Es braucht allerdings keine sehr lange oder besonders intime Kenntnis seiner Person, um zumindest einen Ansatz von einer Ahnung davon zu erhaschen, wie er wohl an seinen Spitznamen gekommen sein mag.
    "Hoho", sagte Hoho, "Kristof! Wa-was hassn duda mit deiner Visage annangestelllt?" Ich sagte: "Du solltest erstmal meine Klötze sehen."
    Während man bei der Beschreibung von Hohos alles überragender Silhouette nicht so recht um das Attribut 'fleischig' herumkäme, wirkte Charly, vor allem im direkten, engumschlungenen Vergleich, wie aus einem ganz anderen, härteren Material gemacht. Hammer und Meißel schienen bei der Konturierung seiner Gestalt eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Hammer, Meißel und eine Menge sehr, sehr feinen Schmirgels.
    Zu einer seiner vielen, für die Führung eines Rockerclubs nötigen Eigenschaften zählt auch die, zumindest zeitweise einen Hauch von Klarheit in jeden denkbaren Zustand von Rausch zwingen zu können. Nach nur einem prüfenden Blick auf mich ließ er von Hoho ab, reichte mir sein Glas und stellte fest: "Das heißt, du bist ohne die Kleine zurück."
    "Sie war nicht zu begeistern", erklärte ich, "und dann mischten sich noch zwei chinesische Grobiane ein, die glaubten, Besitzansprüche auf die junge Dame geltend machen zu können. Ihre Argumente waren doppelt so gut wie meine, um es knapp zu formulieren." Nachdem ich mir das von der Seele geredet hatte, nahm ich ordentlich einen zur Brust, womit ich mir einen Hustenanfall von nicht mehr als höchstens drei oder vier Minuten einhandelte.
    "Ich meine", presste ich zwischendurch mannhaft hervor, "letztes Jahr die Bowle wäre stärker gewesen."
    "Und was war hier los?", fragte ich, einen vorsichtig zwischen wackligen Zähnen gelutschten Löffel kalten Kartoffelbreis mit Soße und einen weiteren, etwas zurückhaltenderen Schluck Bowle später. "Bisschen 'n Terz mittie Eierköppe", antwortete Hoho etwas leichthin. "Sie 0-" doch dann brach er ab, fasste sich an die Nasenwurzel, wandte den Kopf zur Seite und bat Charly, an seiner Stelle weiterzuerzählen.
    Ajeh, dachte ich. Na, wer hingeht und eine Gruppe fast kahlgeschorener Männer, auch noch im deutschsprachigen Raum, 'Ironheads' tauft, ist für alles weiter nun wirklich selbst verantwortlich. Die Eierköppe, also. Einheitsfrisierte Nazi-Rocker mit einer Schwäche für alles Militärische. Fuhren fast alle schwarze BMWs. Viele mit Seitenwagen. In schwarzen Ledermänteln, mit Stahlhelmen auf dem Kopf. Mir kamen sie immer vor wie Leute, die eine 40er-Jahre Wochenschau zuviel gesehen haben. Auf dem Elefantentreffen hatten sie alle zusammen in einem riesigen Armeezelt gehaust, von morgens bis abends Marschmusik gedudelt und sich aus NATO-Notrationen verpflegt. Die Fuckers ignorierten sie so gut es ging als Spinner, doch aus der linken, der Schwulen- und Drogenszene kamen Berichte über nächtliche Überfälle von zunehmender Brutalität. Bisher hatten sie nicht versucht, sich in die stormfuckerschen Tätigkeitsbereiche hineinzudrängen, doch sollten sie es tun, war ein Krieg vorprogrammiert.
    "Und?", fragte ich. Noch, fiel mir auf, hatte ich längst nicht alle der Jungs zu Gesicht bekommen. "Willy", sagte Charly, als sage das alles. Was es in gewisser Weise tat. "Montag, oder wann das war, kam er spät nachhause, im Schlepptau zwei Eierköppe." Er seufzte. "Und du weißt ja, wie Willy ist, wenn er einen Kleinen auf hat."
    Ich nickte. Willy, so sagt man, ist vor garnix fies. Wenn er auf Streifzug geht, bringt er regelmäßig - wie soll ich es ausdrücken? - Wesen mit ins Haus zurück, wie man es sonst nur von Katzen kennt. Häufig in hilflosem Zustand, oft in gleichem Masse abstoßend wie bemitleidenswert, meist jedoch, eigentlich fast immer, auf die eine oder andere Weise Trouble.
    "Also Willy lässt die Hosen runter und versucht, ein paar, ähm, Zärtlichkeiten anzubringen. Ist möglicherweise an ein paar Latente geraten, und du weißt ja, das sind die Übelsten. Prompt meinen die beiden, sich für seine Aufmerksamkeiten bedanken zu müssen, indem sie ihn aufmischen. Poppel und Hoho haben gerade noch rechtzeitig eingegriffen."
    "Mussten richtich grob werden", schob Hoho ein. Was das hieß, wusste ich.
    "Und, was soll ich sagen, gestern Abend, ich schmück gerade den Baum -" Charly deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf das hohe, kahle, schwarze Gerippe unter einem runden, rußigen Fleck an der Decke, in das sich noch jede stormfuckersche Weihnachtstanne verwandelt hat - "Scuzzi härtet Eishockeypucks im Ofen -"
    "Ich habe Kekse gebacken", mischte sich der zufällig gerade vorbeikommende Scuzzi ein - "die Jungs spielen 'Reise nach Jerusalem' , alles ist so richtig gemütlich, als urplötzlich ein Stein durch die Scheibe geflogen kommt und dann noch einer und wie wir rauskucken, rotten sich da vielleicht zwölf oder fünfzehn vermummte Typen in Tarnanzügen auf dem Rasen zusammen und machen Anstalten, die Haustür aufzubrechen. Kristof", und er sah mich ernst und beinahe entschuldigend an, "was sollten wir tun?"
    Ihr seid wie ein Mann raus und habt die Scheiße aus ihnen herausgeprügelt, war die Antwort, die mir auf der Zunge lag, und am Ende war einer tot. Anders ließ sich ihr seltsames Herumgedruckse kaum deuten. Täuschte ich mich, oder schwammen ihnen die Augen?
    "Was sollten wir tun", wiederholte Charly, mit etwas wie beginnender Hilflosigkeit in der Stimme und blickte seinen großen, schlichten Gefährten an, der mit so was wie Rührung zu kämpfen schien. "Und?", fragte ich, langsam ernsthaft besorgt.
    "Wir haben", sagte Charly, ohne mich anzusehen, stieß stattdessen seine Stirn mit einem hohlen 'Gunk' gegen die von Hoho, "wir haben", und ich sah eine Träne fallen, kein Scherz, "wir haben die Bullen gerufen!" Und sie fielen sich in die Arme und brüllten vor Lachen, dass es die New übertönte.

 

© Rotbuch Verlag, 2001

 

Klicken Sie hier für den ersten Teil des Vorabdrucks oder hier für den dritten Teil.

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen