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Jörg Juretzka: Der Willy ist weg

 

Teil 3 des Vorabdrucks, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Rotbuch Verlages.

 

Klicken Sie hier für den ersten Teil des Vorabdrucks oder hier für den zweiten Teil

 

Der Willy ist weg     Die Bullen hatten nur die Adresse 'Johann-Wolfgang-von Goethe-Allee' gehört und waren direkt mit ein paar Mannschaftswagen angerückt, hatten eingefangen, was sich fangen ließ, einkassiert, was sich ergab, niedergeknüppelt, was sich zur Wehr setzte, schließlich alles zusammen bäuchlings auf dem Rasen ausgerichtet, mit Handschellen versehen, in die Grünen Minnas verfrachtet und weggekarrt. Unter tosendem Applaus.
    Die piekfeine Adresse verdankten wir einem Unfall. Wirklich wahr.
    Willys Vater, der alte August Heckhoff, hatte sich hochgearbeitet. Mit einer Mischung aus Zähigkeit, Risikofreude und den wahrscheinlich unverzichtbaren Ellenbogen hatte er es geschafft, im Verlauf von 25 Jahren aus einer Ein-Mann-Hinterhofschlosserei eine Maschinenbaufirma mit beinahe 400 Angestellten aufzubauen.
    Was einen Mann zu so einem Kraftakt motiviert, ist sicherlich von Fall zu Fall verschieden. Die Verlockung, einen Haufen Kohle zu verdienen, einen dicken Wagen und ein großes Haus zu besitzen, mag alle Unternehmer antreiben, doch in späteren Jahren werden viele von ihnen, nachdem sie all das erreicht haben, bei der Stange gehalten von dem Wunsch, etwas zu hinterlassen, etwas zu vererben.
    Willy - eigentlich Wilfried - war August Heckhoffs einziger Nachfahre. Irgendwann um Willys 18. Geburtstag herum beschloss sein Vater, sein Testament zu machen und somit auch die zukünftige Leitung der Firma zu regeln. Dazu rief er den Familienrat, seine gesamte Führungsmannschaft und den als Firmen- und Familienanwalt und als Freund und Vertrauter im weitesten Sinne fungierenden Notar Dr. Roth-Bichler zusammen.
    Reihum befragt, äußerte jeder der Anwesenden in sicherlich unterschiedlichen Worten und doch unmissverständlich in der Botschaft die Ansicht, dass, sollte Willy die Leitung des väterlichen Betriebes übernehmen, es keine sechs Monate dauern dürfte, bis sich die 'Heckhoff Maschinen- und Anlagenbau GmbH' wieder in eine Ein-Mann-Hinterhofschlosserei zurückverwandelt hätte.
    Also wurde beschlossen, die Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, Willy als Erben der Villa und - bis zum Erreichen des 28. Lebensjahres - einer monatlichen Apanage aus dem Privatvermögen einzusetzen und Dr. Roth-Bichler als Verwalter und Treuhänder.
    Zwei Monate später platzte August Heckhoff bei hohem Tempo auf der Autobahn ein Vorderreifen, was den dicken Mercedes praktisch ungebremst gegen einen Brückenpfeiler schmetterte. Er und seine Frau waren sofort tot.

 

Willy hing damals schon seit längerer Zeit als so eine Art ewiger Volontär im Dunstkreis der Stormfuckers herum. So einer, der immer davon spricht, auch den Führerschein machen und sich dann diese oder jene Maschine kaufen zu wollen, und doch ... Einer von denen, bei dem man gleich spürte, dass es dabei bleiben würde. Beim Sprechen davon. Gleichzeitig war er sympathisch, ging keinem auf den Sack und war sich nie zu schade, Zigaretten zu verteilen und Bier holen zu gehen. Nenn es Faktotum, nenn es Maskottchen, nenn es Hanger-on, Tatsache ist, praktisch jede Gang hat so einen von der Sorte.
    Dann, von heute auf morgen, wurde die Heckhoffsche Ex-Stahlbaron-Villa, mit ihrer Vielzahl von Schlafzimmern, Gästezimmern, Gesindekammern unterm Dach, einer Empfangshalle, einem riesigen Esszimmer, mit Dreifach-Garage und Pool im parkähnlichen Garten und einer Adresse, wie es sie nobler kaum gibt: 'Johann-Wolfgang-von-Goethe-Allee', von Willy ganz alleine bewohnt. Na ja, nicht für lange, soviel ist mal sicher. Nicht für lange allein, meine ich.

 

Es sei tragisch, dass ich nicht dabei gewesen sei, musste ich mir noch Tage später immer und immer wieder anhören. Im offenen Fenster zu hängen und abwechselnd die Bullen anzufeuern und die Eierköppe zu verarschen sei das beste gewesen, das geilste, das größte überhaupt ... Irgendwann gingen jedem von ihnen die Superlative aus, doch worüber sich alle einig waren, war, noch nie in ihrem ganzen Leben so gelacht zu haben.
    Ich lutschte weiter an meinem Kartoffelbrei herum, schlürfte vom 'Weißen Stock', wie die Bowle unter der Hand auch genannt wurde, während Charly und Hoho davonzogen, neue Stühle aus dem Keller zu holen und eine ordentliche Meute für eine weitere Runde 'Reise nach Jerusalem' zusammenzutreiben. Es war das offizielle und traditionelle stormfuckersche Weihnachtsspiel. Die frische Bestuhlung wurde im Esszimmer rings um den großen Tisch aufgebaut. The New brachten einen weiteren Reigen 70er-Jahre Cover-Rocks zu einem dröhnenden Ende, und das trotz der unermüdlichen, im Takt skandierten 'Zugabe' - Forderungen ihres einen, treuen, sie immer und überall hin begleitenden Fans.
    Zottelmähnige, stark bis sehr stark angetrunkene Mitglieder einer zumindest semi-kriminellen Motorradgang passierten nacheinander die Küche auf dem Weg zu einem bis in die Annalen der Geschichte des Mannes zurückreichenden Ritual: dem wettkämpferischen Kräftemessen.
    Jeder einzelne klopfte mir auf die Schulter.
    Jeder sagte irgendetwas Schmeichelhaftes zu meinem dicken Auge.
    Jeder murmelte etwas Mitfühlendes zu meinen anderen Schwellungen.
    Jeder bedauerte meine Abwesenheit am gestrigen Abend.
    Jeder meinte, dabei habe ich aber echt gefehlt.
    Jeder versicherte mir seine Hilfe, sollte ich es den Chinesen heimzahlen wollen.
    Es waren gute Jungs, keine Frage.
    Wenn sie sich bloß dieses dämliche Schulterklopfen abgewöhnen könnten.
    Schließlich, nachdem auch der Letzte an mir vorbeigeschlurft war wie Kondolierende an einem offenen Grab, und nach Verstreichen einer Pause, gerade lang genug, um einem Zeit zu lassen, sich zu fragen, wo er denn bliebe, erschien er endlich, der Gastgeber der Party, der Herr dieses Hauses: Unser Willy.
    Ächzend lehnte er im Rahmen der Küchentüre, die mit Isolierband wenig fachmännisch geflickte Brille schräg auf der Nase und die Gesichtszüge entgleist wie eine unter die Pfoten eines Neufundländers geratene Modelleisenbahn, und fasste Mut für die Querung des Raumes. Willy, wollte mir scheinen, hatte mehr als nur genippt am 'Schädelspalter', wie Überlebende unsere Bowle schon mal tituliert haben sollen. Nach einigem Durchatmen und noch mehr, viel Rollen von Kopf und Augen beanspruchenden Bemühungen, seinen Blick zu fokussieren, erkannte er mich, wahrscheinlich, stutzte erst, stieß sich dann freudestrahlend vom Türrahmen ab, schwankte mit gefährlich pendelndem Seitenausschlag zu mir herüber, versuchte, mir auf die Schulter zu klopfen, klopfte daneben und klatschte der Länge nach seitwärts in die Überreste zweier Spanferkel.
    »HasndudamitteinnAugemacht?«, fragte er, zwischen vergeblichen Versuchen, sich inmitten seines fettglitschenden Lagers aufzurichten.
    »GimmirmaneHand«, sah er es schließlich ein und ließ sich von mir in eine sitzende Haltung hochziehen. Von der Hüfte aufwärts bis zum Scheitel trug er mehr Ferkelreste auf der Figur, als auf der Platte verblieben waren.
    »Brauch unnunbedingt wasszu Ficken«, vertraute er mir an und rieb das verschmierte rechte Brillenglas mit einem noch verschmierteren Hemdzipfel ab. Hob die Brille ans Licht, linste verkniffen hindurch, nickte eine ganze Weile zufrieden und setzte sie wieder auf. Dann packte ihn ein Gedanke.
    »Dagmar iss nich gekommen«, stieß er hervor und sah mich durch das eine, halbwegs klargebliebene Glas an, als sei dies ein unerwarteter, ja gänzlich überraschender Umstand, mit dem keiner wirklich gerechnet habe. Ich schenkte mir einen Kommentar, blickte stattdessen nur mit leichtem, verständnislosen Kopfschütteln ebenfalls einäugig zurück und nahm einen weiteren Löffel Kartoffelpüree, inständig hoffend, das sei genau das geeignete Mittel, den 'Weißen Stock' daran zu hindern, sich durch meine Magenwand hindurch und von da an abwärts bis nach China zu fressen.
    »Na«, fügte Willy nach einem Moment großer Nachdenklichkeit mit einem Anflug von Selbstkritik hinzu und wischte etwas ungeschickt an seinen triefenden Plörren herum, » 's vielleicht auch besser so.«

 

'Reise nach Jerusalem' auf Stormfucker-Art erfordert einen strengen, ja unnachgiebigen Schiedsrichter. Da es keine Spielregeln gibt, sind seine Entscheidungen ebenso unanfechtbar wie ständiger Kritik ausgesetzt. Es ist ein Job für jemanden mit natürlicher Autorität und einem Geschmack für Willkürentscheidungen.
    Willy und ich waren beide, jeder auf seine Art, in keinem Zustand, aktiv an dem Spiel teilzunehmen, doch er bestand trotzdem darauf, und ich bin mein Leben lang schon der geborene Schiedsrichter gewesen. Ich hängte mir die Trillerpfeife um und pfiff augenblicklich die Runde an, ohne die Drehrichtung angezeigt oder den Teilnehmern Zeit gegeben zu haben, sich rings um den großen Eichentisch zu postieren. Chaos brach los. Man könnte versucht sein, zu sagen, Urgewalten brächen sich Bahn, doch dies war schon die achte Runde heute, und die Energien der Wettstreitenden hatten sich schon weitgehend erschöpft. Die Schwarze Binde, wie Kenner unsere Bowle schalkhaft nennen, tat natürlich ein übriges. Somit blieb es bei einem schlichten Chaos.
    Willy flog schon aus der ersten Kurve, schlitterte, einen sichtlichen Film hinterlassend, Kopf voran über das Parkett und kam nach heftigem, klirrendem Einschlag inmitten einer in Monaten mühevoll zusammengetragenen Ansammlung leerer Flaschen zu liegen. Kalt. Mund und Augen halb geöffnet, Extremitäten verdreht und in alle Richtungen zeigend. (Wir haben später ein Foto davon geschossen und mussten doch tatsächlich einen Redakteur unter Druck setzen, um es zu Neujahr im Glückwunschteil der WAZ abgedruckt zu bekommen).
    Die Fraktion, die der Richtung gegen den Uhrzeigersinn den Vorzug gab, erwies sich als die durchsetzungsfähigere und stellte die Mitglieder der anderen Doktrin vor die Wahl, sich entweder umzubesinnen oder untergepflügt zu werden. Die meisten besannen sich. Kaum rannten sie alle in eine Richtung um den Tisch, änderte ich mit zwei scharfen Pfiffen die Richtung. Kaum hatten sie das gemeistert, befahl ich mit einem langen Pfiff 'Setzen!'. Alles schmiss sich auf die Stühle. Wessen Sitzmöbel zusammenbrach, war draußen. Und hatte gewonnen. Denn wer es bis zum Schluss nicht schaffte, einen Stuhl zu ruinieren, musste die ganzen Bruchstücke aufsammeln und das Feuer damit füttern. Außerdem bekam er die spitze gelbe Mütze aufgesetzt und musste sich bis zum nächsten Durchgang ungestraft 'Lusche' nennen lassen.
    Poppel verlor diesmal, was seiner üblichen Scheiß-Laune einen weiteren Tritt versetzte. Zwar zog er brav die gelbe Mütze über das früh ergraute Haar, zwar sammelte er brav den ganzen Möbelbruch auf und schleppte ihn in die Halle, doch 'Lusche' brauchte er sich trotzdem nicht nennen zu lassen.
    Bei Poppel konnte man nur so und so weit gehen. Er war, wenn man so will, berühmt für seinen Humor. So wie die iranische Führung. Oder die katholische.
    Gegen Morgen hatte die 'Chemische Keule', wie Anwender im Selbstversuch die stormfuckersche Bowle unter der Hand bezeichnen, fast alle meine Schmerzen einigermaßen im Griff. Solange ich breitbeinig auf etwas Kaltem in einem weichen Fauteuil saß, hieß das. (Irgendwann, als nur noch ein harter Kern von Hausbewohnern dem Zugriff der Ohnmacht zu trotzen verstand, habe ich sie ausgepackt und - Alkohol enthemmt - Charly ein Foto davon machen lassen. Allerdings, leider, leider: Kein Druck der Welt vermochte dieses Bild in den Glückwunschteil der WAZ zu pressen. Also haben sie es zum Vergrößern und Rahmen weggeben und zu meinem Geburtstag an der Stirnseite des Esszimmers aufgehängt. Gott schütze sie, die guten Jungs. Sie sind so nett).

 

Das Feuer im Kamin war zu einem glühenden Haufen zusammengesunken. Gäste und Gastgeber waren zu schnarchenden Haufen zusammengesunken. Willy torkelte in unregelmäßigen Abständen durchs Bild, Scuzzi hatte es nach langem und hartnäckigem Ringen letztendlich drangegeben, geschüttelt von einem enormen Schluckauf eine letzte Platte auflegen zu wollen und sich, als auch die New nicht wiederzubeleben waren, auf sein Zimmer verzogen. Mir war's, jetzt mal ehrlich, nur zu recht.
    Irgendjemand ist immer der letzte, auf jeder Party.
    Glas in der einen, Docht in der anderen Hand, die Eier auf Eis, hielt ich noch einen kleinen Plausch mit unserem Präsidenten. Wenn ich mich einmal in eine Idee verrannt habe, ist es schlimm mit mir.
    »Was willst du machen, wenn sie nicht will?«, fragte er und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Locken. Ich zuckte die Achseln.
    »Improvisieren.«
    »Wir können sie gegen den Willen der beiden Chinesen da rausholen, keine Frage. Aber nicht gegen ihren eigenen.» Seine ach-so-blauen Augen blickten ernst und blutunterlaufen.
    »Das Problem ist, sie weiß ja schon gar nicht mehr, was ihr eigener Wille ist.«
    »Erklär das mal 'nem Richter, Kristof. Vergiss nicht, du bist auf Bewährung draußen.«
    »Ja«, sagte ich, leicht genervt. Eine Reststrafe von 14 Monaten ist nichts, was man einfach so vergisst. Bis die Frist verstrichen ist, kannst du dir keinen Joint mehr anstecken, keinen wackeligen Scheck unterschreiben, ja nicht mal mehr bei Rot über die Straße gehen, ohne dass in deinem Hinterstübchen ein Gong ertönt und eine mit viel Hall unterlegte, tiefe Stimme '14 Monate' raunt. »Trotzdem.«
    Jetzt war es an Charly, die Achseln zu zucken. »Wie du willst«, sagte er. »Ich bin dabei.«
    Wir stießen an. Das gern um diese Stunde aufkommende, warme Gefühl von Freundschaft, Nähe, Brüderlichkeit durchströmte uns. »Wann willst du hinfahren?«, fragte er und nahm einen Schluck.
    »Noch heute.» Und ich musste ihm ordentlich auf den Rücken hauen, bis er wieder halbwegs bei Atem war. »Ich habe mir einmal vorgenommen, sie Weihnachten nachhause zu bringen, und du weißt ja, wie das ist mit mir.«
    »Ja«, nickte er, immer noch hustend. »Schlimm.«

 

© Rotbuch Verlag, 2001

 

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