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Leichenberg 10/2010

 

Blinde Zeugen

Erfreulich, wenn aus einer guten Idee auch nach dem fünften Buch noch keine fahle Masche wird. Stuart MacBrides makabre Polizeiromane über Aberdeen und um Detektive Sergeant Logan McRae halten ihr Niveau, ja, sie werden sogar komplexer, noch schattierter, noch uneindeutiger zwischen Grauen und Komik oszillierender. In Blinde Zeugen (Manhattan) geht es vornehmlich um Xenophobie und um eine besonders bösartig-robuste Spielart des Organisierten Verbrechens, die McRae, genannt Lazarus, sogar nach Polen führt. Nordeuropa ist auch außerhalb Skandinaviens ein "Verbrechensraum", mit engen Verflechtungen und Aberdeen erlebt seine diversen Konkurrenzkämpfe. Und außerdem interessiert sich MacBride immer sehr über das Innenleben seiner Hauptfiguren, die er von Buch zu Buch subtiler zeichnet. Diesmal wird die graulichste Polizistin der gesamten Kriminalliteratur, Detektive Inspector Steel, menschlicher denn je. Und Korruption siedelt nicht unbedingt da, wo man sie vermutet. Das alles ist sehr überzeugend und natürlich auch sehr komisch, sehr blutig, sehr abgedreht und deswegen alles in allem sehr plausibel.

Aus Frankreich kommt ein schönes Beispiel dafür, wie man intelligent zeitgeschichtliche Kriminalromane schreiben kann, ohne zu naiven oder nur dummen und sinnlosen Verlagerungen von Grimmi-Plots in irgendeine Vergangenheit zu greifen: Die Seele in der Faust von Patrick Rotman (Assoziation A Noir). Ein Roman, der als Filmprojekt über die manchmal bösartigen Verwicklungen der Résistance in die politische Großwetterlage zwischen Antifaschismus und Stalinismus, daherkommt. Rekonstruktion via Fiktion, was Verrat, Mord, Ideologie, Liebe und Unmenschlichkeit nicht schöner, aber weniger sortierbar macht. So könnte in der Tat eine radikale jüdische Widerstandsgruppe agiert haben, lange bevor Tarantino seine »Unglorious Basterds« ins Rennen schickte. Ein kluges Nachwort von Elfriede Müller liefert den nötigen Kontext. Gut, dass solche Bücher immer noch übersetzt und sorgfältig gemacht werden.

Der barfüßige Polizist von der Calle San Martín

Das Frankfurter Buchmessen-Gastland Argentinien hat natürlich nicht nur erstklassige Kriminalromane zu bieten, sondern auch Routine-Kram, den man nicht unbedingt braucht, wie die allzu biedersinnig zusammengeschraubten Polizei- & Gangsterromane von Ernesto Mallo, der auch mit dem zweiten Buch, Der barfüßige Polizist von der Calle San Martín genauso wenig überzeugen kann wie mit dem ersten, Der Tote von der Plaza Once (Aufbau). Aber immerhin erlaubt das Thema, auch verschollene Schätze wieder auszugraben wie es der kleine Klagenfurter Drava Verlag macht: Mit Enrique Medinas 1976 von den Militärs flugs verbotenen Romans Der Boxer. Die Militärs hatten von ihrem point-of-view aus völlig recht, denn Medina erzählt die todtraurige, knüppelharte Geschichte vom populären Boxidol El Duke, der zum Schläger, Vergewaltiger und Killer im Auftrage der Paramilitärs wird und in rasenden Monologen mit sich hadert, während andere Perspektiven ihn als Scheusal dastehen lassen. Eindrücklich und unbehaglich.

Sehr behaglich hingegen ein anderer Klassiker der argentinischen Kriminalliteratur, der kurioserweise erst jetzt übersetzt wurde: Der Hass der Liebenden von Silvina Ocampo & Adolfo Bioy Casares (Manesse) aus dem Jahr 1942. Bemerkenswert nicht nur, weil es der einzige Roman der Lyrikerin und Erzählerin Ocampo ist, den sie je geschrieben hat, wenn auch zusammen mit ihrem Gatten, der selbst als Teil des "Biorges" bekannt ist, dessen andere Hälfte Jorge Luis Borges heißt. Bemerkenswert auch, weil dieser Roman ganz im Sinne von Borges schon ein Meta-Text ist, der Kriminalromane als regelgeleitetes Erzählen ohne störende Realitätsbezüge begreift und dann diese Konstellation demontiert. Wir langweilen uns also gepflegt und ein wenig affig mit den skurrilen Snob-Figuren in einem allmählichen versandenden Hotel an der argentinischen Atlantikküste und begegnen seltsamen Kindern, die Albatrosse ausstopfen, devianten Doctores und ätherischen Damen, die in einen Plot gesponnen sind, der gar nicht aufgehen darf. Ein charmantes Teilchen, dessen Echos heute etwa bei Pablo de Santis oder Gilbert Adair zu finden sind.

Ins Weiße zielen

Am Ende noch ein brandneues, bärenstarkes Buch aus Argentinien: Ins Weiße zielen von Ricardo Piglia (Wagenbach). Ein Kriminalroman, der anfängt wie ein Western (Mann kommt in eine Kleinstadt, wirft mit Geld um sich, schnappt sich die schärfsten Bräute und ist dann tot) und aufhört wie eine Parodie auf nationalökomische Diskurse. Dazwischen jede Menge abgedrehte Gestalten und bizarre Situationen - die argentinische Provinz als Weltdorf, festgehalten als Schnappschuss im Jahr 1973. Piglia, der auch brillant über Literatur nachdenken kann (z.B. »Kurzformen« bei Berenberg und »Der letzte Leser« bei Klever) kann beide Disziplinen sinnvoll verbinden, was wirklich eine sehr rare Fähigkeit ist.

 

© Thomas Wörtche, 2010

 

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