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Leichenberg 12/2007

 

Ghost

Peinlich, peinlich: Ghost von Robert Harris (Heyne) - ein katastrophal alberner Roman, der uns enthüllt, warum Tony Blair seine Aussenpolitik als Bushs poodle so gemacht hat, wie er sie gemacht hat: Weil seine Gattin dunnemals von der CIA angeworben ward. Große Welt wie Klein-Doldi sie sich vorstellt.Als sterbenslangweiliger Politthriller mit fahlen Scherzchen dargeboten, dabei ohne jeden Witz und ohne jede Komik. Aber alle finden's toll. Na bravo!

Ziemlich schlimm auch Brian Freeman: Doppelmord (Hoffmann und Campe). Misogyner Tüftelplot ohne die geringste Plausibilität (aber die Schlampe ist dann doch tot, am Schluß), dazu eine krause Mischung aus Polizeiroman und legal thriller plus pc-korrektes Figurenensemble und dem verzweifelten, plumpen Versuch, die Handlung hin und her zu drehen - mit anderen Worten: Extrem hoher Plastikfaktor, sinnfrei und zähklebrig.

Der Abschuß aber kommt aus dem altehrwürdigen Haus Insel - tatsächlich im Jahr 2007, also ein Vierteljahrhundert nach den einschlägigen Debatten, eine Anthologie mit dem Titel Frauen morden anders. Untertitel ohne Scherz: Die spannendsten Kriminalgeschichten, ausgewählt von Carolin Bunk und Hans Sarkowitz. Unter den AutorInnen Edgar Wallace. Das ist beyond, far beyond...

Die Jäger auf Karinhall

Weit ausserhalb des guten Geschmacks, aber in seinem neo-barocken Wahnsinn grandios: Carl-Henning Wijkmarks Die Jäger auf Karinhall (Matthes & Seitz), entstanden 1972, jetzt auf Deutsch. Ein Pornopolitthriller, der auf Görings surreal protzigem Landsitz Karinhall spielt und die politische Großwetterlage 1936 sarkastisch kommentiert. Allerlei Machinationen, überdimensional, bedenklich irre, sehr komisch und bizarr inszeniert: eine vergnügliche Ferkelei.

Das ästhetische Gegenprogramm heisst Keine Leiche in Amsterdam von Simon de Waal (Piper). Die Geschichte einer Mordermittlung ohne Leiche, aber mit viel Blut. Konzentriert, karg, ohne plüschiges Beiwerk, ohne Lieblichkeiten, ohne zwischenmenschliches Gedöns. Allerdings auch ohne Aufreger und sprachlich unauffällig. Ob das reicht? Wollen den Autor, der Polizist war, mal im Auge behalten...

Mit Laßt die Kadaver bräunen von Jean-Patrick Manchette und Jean-Pierre Bastide ist die Manchette-Ausgabe beim Distel LiteraturVerlag abgeschlossen. 190 Seiten wohlgemutes Töten, action, Kameraeinstellungen, Achssprünge, Perspektiven, reduzierter epischer Aufwand. Die Ideologie der Figurenpsychologie, die Tiefe unterstellt, wo nur Oberfläche ist, die Dämpfungen des Pseudosinnhaften - all das hat dieser Roman fröhlich über Bord geworfen. Ob und wie man das Buch heutzutage mit Interpretationen füllen möchte - sozioökonomisch oder gesellschaftsanalytisch oder freudomarxistisch oder was sonst auf dem Diskurs-Menu steht - bitte komplettieren Sie selbst! Manchette war, so glaube ich zunehmend, einfach ein begnadeter, spielmatziger Destruktor. Legende und Text rücken ziemlich weit auseinander.

Stalins Geist

Keine Legende hingegen scheint zu sein, dass in der Moskauer U-Bahn Stalin persönlich umgeht. Oder doch sein Geist? Eine Reinkarnation? Ein Menetekel im Putin-Russland? Arkadi Renko muss ran, inzwischen Ermittler bei der Staatsanwaltschaft. Und er tappt hinein in ein Delirium aus russischer Realpolitik, Tschetschenienkrieg und viel, viel Gewalt. Grandios, der neue Roman von Martin Cruz Smith: Stalins Geist (C. Bertelsmann). Rätselhaft, opak, grimmig-komisch und glasklar die politischen und sozialen Bewegungen der Zeit beobachtend, denn es ist keineswegs nur ein russisches Problem, was sich in Russland abspielt. Grosser Roman!

Ein ganz grosser Erzähler des 20. Jahrhunderts war Edward Gorey, obwohl er oft ohne Worte, nur mit seinen Zeichnungen erzählte. Oder Wort und Bild knappest kombinierte. Ein Virtuose des schwarzen Humors, der Rätsel und makabren Aberrationen, die uns alle umgeben, denen wir aber wirklich nicht allzugenau auf den Grund gehen wollen. Diogenes hat 10 seiner besten Geschichten in einem Schuber zusammengefasst: The Lugubrious Library (Achtung, leider teuer, aber jeden Cent wert), die Texte allerdings sind bestens übersetzt. Ein absolutes Must!

Und noch ein Grundlagenbuch über crime & violence: Ekel. Hochmut.Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle von Aurel Kolnai (edition Suhrkamp). Drei brillante, feinmaschige Erkundungen der Phänomene, aus denen auch die Kriminalliteratur ihre Energien bezieht. Spannend!

 

© Thomas Wörtche, 2007

 

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